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Als Weinkritiker und Weinjournalisten ist es unsere Aufgabe, Weine verständlich zu beschreiben und sensorische Wahrnehmungen in eine geeignete Sprache zu fassen. Dafür müssen wir wissen, wie Konsumenten ihre Geschmacksempfindungen verbalisieren, mit welchen Begriffen sie ihre Sinneseindrücke wiedergeben.

Beim Weintrinken geht es ums Riechen, Schmecken und Fühlen. Über die professionelle Weinsprache habe ich bereits vor vier Jahren einen ausführlichen Blogbeitrag verfasst und verweise darüber hinaus auf das Glossar von Wein-Plus. Diese Weinsprache unterscheidet sich jedoch als Fachsprache deutlich von der Art und Weise, wie Laien über Wein reden, und auch die Wahrnehmungen selbst – Süße, Säure, von einzelnen Aromen ganz zu schweigen – sind naturgemäß individuell, so dass derselbe Wein von mehreren Menschen ganz unterschiedlich empfunden und beschrieben werden kann. (Ziel der professionellen Weinkritik ist eine intersubjektive Beurteilung, die es verschiedenen Menschen ermöglicht, aus einer Weinbeschreibung dieselben sensorischen Ausprägungen des Weins herauszulesen und die Kritik insofern nachzuvollziehen; sie sollen sich vorstellen können, wie der Wein riecht und schmeckt, und diese Vorstellung soll der geschulten Wahrnehmung des Kritikers möglichst nahe kommen.)

In den vergangenen Wochen habe ich drei Beispiele dafür erlebt, wie durchschnittliche Konsumenten Weine beschreiben und wie verschieden allein die Empfindungen sind:

1. Beispiel: lecker und krass

Bei Weinproben, aber auch bei Restaurantbesuchen oder sogar nur in Erzählungen werden Weine, deren Geschmack von der sich äußernden Person positiv beurteilt wird, als „lecker“ bezeichnet. Dieses Attribut taucht inflationär auf und bestätigt damit genau das, was ich ihm – nach meiner gnadenlosen Verkostungsschule bei Wein-Plus unwiderruflich – unterstelle: Es ist banal, unpräzise und beliebig. Jeder Wein, der dem vereinheitlichten Massengeschmack entspricht, der auf der Zunge keinen Widerstand leistet, ist „lecker“; alle anderen Weine sind – das habe ich jetzt gelernt – „krass“. Die Weinsensorik und das zugehörige Vokabular von (zumal jungen) Weinnovizen sind eingedampft auf diese zwei trennscharfen Begriffe: „lecker“ und „krass“. Das Attribut „krass“ bezieht sich demzufolge auf sämtliche Weine jenseits des Mainstreams: völlig trockene Weine, im Holz ausgebaute Weine, gereifte Weine etc.

Bereits in meiner Kolumne „Trügerisch trocken“ (Sommer 2012) schrieb ich zum Thema „lecker“, hauptsächlich bezogen auf Weißweine: „Das Attribut ‚trocken‘ gibt den Süßegrad an und bezieht sich auf den Gehalt an Restzucker, der nach der Gärung noch im Wein enthalten ist. ‚Trocken‘ darf ein Wein laut Gesetz heißen, wenn er maximal 9 g/l Restzucker hat und die Gesamtsäure dabei höchstens um 2 g/l niedriger liegt als die Restsüße; ein Wein mit maximal 4 g/l Restzucker gilt als ‚klassisch trocken‘. Doch immer mehr Winzer gehen bei ihren nominell trockenen Weinen an den oberen Restzucker-Grenzwert heran; Durchschnittswerte von 7 g/l und mehr sind keine Seltenheit. Das hat mehrere Gründe. Erstens wollen die Verbraucher tatsächlich gern süßere, ‚leckere‘ Weine, ohne dass diese so heißen müssten. Durch das stark zuckerhaltige Convenience Food, das heute vielfach die Ernährung bestimmt, sind die Menschen konditioniert und empfinden Speisen oder Getränke, die nicht ‚schön süß‘ sind, als fade oder gar abstoßend. Zucker wird zum Schmiermittel, das die Weine gefälliger machen soll. Zweitens kann mit dem höheren Zuckergehalt über leichte Qualitätsdefizite hinweggetäuscht werden. Wenn etwa das Lesegut nicht ganz sauber selektiert oder der Extrakt zu gering ist, legt sich der Zucker wie ein Schleier über Unebenheiten im Wein, kaschiert kleinere Mängel und gaukelt mehr Aromafülle vor: Restsüße als Kosmetik.“ Der Begriff „trocken“ wird insofern zunehmend – man verzeihe mir das Wortspiel – verwässert.

In der Kolumne „Glutamatweintrinker“ (Frühjahr 2014) griff ich das Thema der sensorischen Reizschwellen erneut auf, diesmal bezogen auf Rotweine: „Gerade Menschen, die eher wenig Weinerfahrung und -wissen haben, fragen meiner Beobachtung zufolge vorwiegend nach Rotweinen, und zwar nach einem bestimmten Typ: ‚Was Dunkles und Kräftiges‘ soll es sein. Gemeint sind damit bei näherem Hinsehen jedoch vielfach marmeladige und verholzte Weine, die sich durch eine weiche, in die Breite gehende Frucht und aufdringliche, den Mund austrocknende Gerbstoffe auszeichnen.“ Für diese Vorliebe erläuterte ich im weiteren Verlauf des Texts zwei Gründe: „Zum einen ist dieser plakative Weintyp der, den der weltweit wohl bekannteste Weinkritiker Robert Parker tendenziell am höchsten bewertet – wobei er, wie er sogar offenlegt, maßgeblich seiner eigenen Präferenz folgt. (Wie objektiv sind diese in der Weinwelt so beachteten Urteile dann übrigens eigentlich?) Zum anderen, so behaupte ich, ist der Geschmackssinn der allermeisten Konsumenten heutzutage durch verstärkende (oder kaschierende) Zusatzstoffe in den Lebensmitteln, die von der Nahrungsmittelindustrie für Handel und Gastronomie hergestellt werden, derart abgestumpft, dass es übersteigerter, geradezu brachialer Reize bedarf, damit die Leute überhaupt noch etwas schmecken. Der Verbrauchergeschmack ist durch Convenience Food und Fast Food übersättigt und vereinheitlicht, so dass nur besonders ausdrucksstarke Weine sich durchsetzen können – weil nur sie überhaupt wahrgenommen werden.“

„Lecker“ ist demnach alles, was in das gewohnte (antrainierte) Geschmacksbild passt – egal, wie es genau schmeckt (süß wie Schokolade oder Cola, würzig wie Kartoffelchips oder Hamburger, cremig wie Eis oder Püriertes, knusprig wie Gebäck- oder Bratenkruste), denn die möglichen differenzierteren Wahrnehmungen werden durch das Pauschalurteil „lecker“ sofort übertüncht, ausgehebelt, weggewischt, für unnötig erklärt. Darüber scheint man gar nicht nachdenken zu müssen; es ist ja „lecker“, damit weiß – vermeintlich – jeder Bescheid. Aber eben nur scheinbar. Und das Urteil wird der Sache nicht gerecht.

Der Begriff „lecker“ – womöglich noch werblich grotesk übersteigert zu „super-lecker“, „mega-lecker“ oder „unfassbar lecker“ (alles schon gelesen) – hat in einer professionellen Weinbeschreibung nichts verloren. Dass Konsumenten damit Weine bezeichnen, um auszudrücken, dass sie ihnen gefallen und geschmacklich zusagen, ist hinzunehmen (sowohl im Sinne von „muss man akzeptieren“ als auch im Sinne von „kann man akzeptieren“). Aber ich finde es einfach schade, wenn Menschen nicht sagen können, wieso ihnen etwas gut schmeckt; denn „lecker“ besagt eben nur, dass der betreffenden Person etwas schmeckt, und ist keine Aussage darüber, weshalb oder wonach. Auch hier hielte ich einen differenzierten Zugang für wünschenswert; darauf werde ich am Ende des Beitrags noch einmal zurückkommen.

2. Beispiel: trocken und süß

Ein Bekannter, der bei mir zu Besuch war, fragte mich nach einem Weißwein, aber, wie er betonte, „nicht so trocken“. Immerhin, dachte ich, er hat schon herausgefunden, was er mag und was eher nicht. Also schenkte ich ihm einen feinherben (laut Etikett „fruchtigen“) Riesling ein – worauf er nach dem Probieren erstaunt ausrief: „Der ist ja süß!“

Was ist hier passiert? Offenbar meinte der Bekannte mit „nicht so trocken“ genau den oberen Bereich des weingesetzlich als trocken definierten Restzuckergehalts, nämlich sieben bis neun Gramm pro Liter. Halbtrocken (9 bis 18 g/l) oder feinherb (gesetzlich nicht festgelegt, meist zwischen 9 und 15 g/l) ist ihm zu süß, wirklich trocken (bis 4 g/l) zu herb. Er scheint also die ideale Zielgruppe für diese nominell trockenen Weine zu sein, die es gern etwas süßlich-schmelziger hat und weder herbe noch süße Weine möchte.

Somit ergibt sich etwa zwischen sechs und zehn Gramm Restzucker pro Liter eine diffuse Grauzone von Weinen, die zwar trocken heißen, es aber nicht wirklich sind und – das ist noch viel wichtiger – vom Konsumenten auch nicht so wahrgenommen werden. Der Versuch, im Übergangsbereich von gesetzlich „trocken“ und „halbtrocken“ (obwohl es hier offiziell gar keine „Pufferzone“ gibt) den Begriff „feinherb“ einzuführen, ist ein Marketing-Kunstgriff, um diesem Phänomen entgegenzuwirken; eine Lösung ist er nicht.

3. Beispiel: Süße und Säure

Im Restaurant bestellten wir in einer Runde von Freunden einen Pouilly Fumé (also Sauvignon Blanc von der Loire), der bereits vier Jahre alt war. Aufgrund seiner Reife zeigte er abgesehen von der charakteristischen Mineralik einen zarten, süßlich wirkenden Schmelz – was sich nicht auf den Geschmack, sondern eben auf die Textur bezog und mir sehr gut gefiel. Bei den anderen fand dieser Wein jedoch weniger Anklang; weshalb, konnten sie nicht ganz benennen, doch sie mutmaßten, er habe „zu viel Säure“. So bestellten wir danach einen zwei Jahre jüngeren Sancerre (also ebenfalls Sauvignon Blanc von der Loire), und dieser gefiel der Tischgesellschaft besser. Besonders verwunderlich war dabei jedoch für mich: Dieser grasig-grüne Sortenvertreter kehrte die Säure stärker hervor als der Vorgänger, dem genau diese Eigenschaft vorgeworfen worden war. Kann es also sein, dass Menschen etwas wahrnehmen und dann das Gegenteil davon beschreiben? Oder irren sie bei der Interpretation ihrer Wahrnehmung? Oder kann die Wahrnehmung – zumal ungeübte Nasen und Zungen – tatsächlich täuschen?

Sinne und Begriffe schärfen

Fest steht, dass alles, was mit Geschmack und sensorischer Wahrnehmung zu tun hat, schwer messbar oder objektivierbar ist (im Gegensatz zur chemischen oder physikalischen Analyse). Wie viel und was jemand in einem Wein riecht und schmeckt, ist rein subjektiv. Umso wichtiger (und schwieriger) ist es, eine gemeinsame Sprache für das zu finden, was wir wahrnehmen. In der Fachsprache gelingt dies noch eher als in Alltagssituationen, wo Geübte und Unbedarfte, Interessierte und Gleichgültige aufeinander treffen. Wie sollen sie sich eindeutig über dieselben Sachverhalte austauschen?

Auch vor diesem Hintergrund erklärt sich der inflationäre Gebrauch des Attributs „lecker“, denn es ist positiv besetzt, und darunter kann sich jeder etwas vorstellen; nur ist es eben keine präzise Beschreibung, und im Zweifelsfall stellt sich jeder etwas anderes darunter vor.

Dennoch bringt es nichts, dieser Begriffswelt die Fachsprache in ihrer ganzen Gewalt und Kleinteiligkeit entgegenzusetzen; das wäre, als erklärte ein Arzt seinem Patienten dessen Krankheit und Behandlung ausschließlich in medizinischen Fachwörtern. Wir brauchen ein Verständnis und eine Kommunikationsebene zwischen Weinlaien und -profis; und diese Initiative kann nur von den Profis ausgehen. Sie müssen das Wein-Fachvokabular in eine für Nicht-Fachleute verständliche Sprache übersetzen. Nur dann können sie erwarten, dass sie Aufmerksamkeit und Interesse entgegengebracht bekommen, und nur dann besteht die Chance, dass sie Weinwissen vermitteln können.

Ich wundere mich selbst immer wieder, wie weit mein eigenes Vokabular, wenn ich es schon als heruntergeschraubt betrachte, von den Begriffen entfernt ist, die (wertfrei verstanden) unambitionierte oder auch interessierte Gelegenheitsweintrinker verwenden, oder dass derselbe Begriff für sie und mich eine unterschiedliche Bedeutung haben kann. Hier muss meiner Ansicht nach noch stärker als bisher eine (behutsame, undogmatische und stets genussorientierte) Aufklärung ansetzen: Es geht gar nicht darum, dass jeder, der Wein trinkt, zwingend einzelne Aromen identifizieren kann. Es reicht aus, ein Verständnis für übergeordnete Geschmackskategorien zu schaffen und diese mit Adjektiven zu benennen (fruchtig, würzig etc.), wie es auch in den einschlägigen Seminaren zu den Grundlagen der Sensorik gelehrt und geübt wird – Stichwort Aromarad. Eine wesentliche Erkenntnis wäre beispielsweise, dass Süße nicht das Gegenteil von Säure ist. Die beiden Dimensionen schließen einander weder aus, noch heben sie sich gegenseitig auf; das Gegenteil von süß ist trocken (also nicht-süß), und das Gegenteil von säurebetont ist mild (also nicht-sauer). Es geht darum, weininteressierte Menschen zu sensibilisieren, Sachverhalte und Kausalitäten bewusst zu machen und Hintergründe zu erklären.

Wer allerdings nicht mehr als ein weichgespültes Wirkungsgetränk haben will, der wird ewig bei ebenso seelen- wie anspruchsloser Industrieware aus dem Discount- oder Supermarkt bleiben. Und über die kann man gar nicht viele Worte verlieren.