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Alte Rotweine zu trinken, ist keine Kunst. Klar, so richtig alte schon – 20, 30 Jahre oder noch älter. Aber gereifte Rotweine gibt es generell häufiger als gereifte Weiße, denn Rotweine sind gemeinhin besser lagerfähig als Weißweine (dazu später mehr). Dies ist ein Plädoyer für reife, für alte Weißweine.

Was macht einen reifen Wein aus? Wann ist ein Wein reif, wann ist er alt? Wann ist er noch gut, wann nicht mehr genießbar? – Jeder Wein hat von Natur aus (Natur ist hier begrifflich weit gefasst und schließt die Arbeit des Winzers in Weinberg und -keller ein) ein gewisses Reife- und Alterungspotenzial. Verschiedene Faktoren sorgen dafür, dass er in einem bestimmten Zeitraum zunächst immer besser wird, bevor die Qualität schließlich nachlässt. Die Qualität ist dabei an der Entwicklung der Aromen festzumachen. Ein Wein hat Primär-, Sekundär- und Tertiäraromen: Primäraromen bringt die Traube selbst mit (Rebsorte, Klima, Boden), Sekundäraromen entstehen bei der Weinherstellung (Gärung, Ausbau), und Tertiäraromen bilden sich während der Reife (Lagerung). Auf die Tertiäraromen kommt es also an, wenn die Reife eines Weins beurteilt werden soll.

Ein Wein, der seinen qualitativen Höhepunkt überschritten hat, wird als firn bezeichnet. Firne äußert sich in einem muffigen Ton: Der Wein riecht und schmeckt wie ein sehr lange nicht gelüfteter Keller, herb, faulig, unangenehm. Wie alle organischen Verbindungen zerfällt ein Wein irgendwann. Begünstigt wird dieser Zerfall durch Sauerstoff. Um Lebensmittel haltbar – alterungsfähig – zu machen, gilt es also, den Einfluss des Sauerstoffs zu verhindern oder zu verlangsamen. Dafür sind zahlreiche Verfahren bekannt, die der Konservierung dienen: von Trocknen, Räuchern und Salzen über Erhitzen oder (Tief-) Kühlen bis zu Druckbehandlung und Bestrahlung. Für die Haltbarkeit eines Weins sind insbesondere drei Inhaltsstoffe maßgeblich: Säure, Zucker und Alkohol – alle drei ebenfalls anerkannte Konservierungsmittel.

Bei Rotwein kommen noch die Tannine (Gerbstoffe) dazu, die bereits die Rebe vor Mikroorganismen und Oxidation schützen. Tannine kommen in den Schalen, Kernen und Stielen der Trauben vor und werden während der Einmaischung bzw. der Maischegärung ebenso wie die Farbstoffe herausgelöst. Daher ist dies besonders für Rotweine relevant. Die Gerbstoffe erhöhen die Beständigkeit und Alterungsfähigkeit des Weins, doch noch mehr erfordert ein hoher Gerbstoffgehalt eine lange Lagerung bzw. Reife, um die herben, adstringierenden Tannine weicher zu machen.

Haltbar sind also Weine mit einem hohen Zucker-, Säure- und/oder Alkoholgehalt. Weißweine, die die Kombination von viel Zucker und Säure besonders gut erfüllen, sind Rieslinge höherer Prädikatsstufen (Auslese, Beerenauslese, Trockenbeerenauslese, Eiswein). Sie können 20 Jahre und viel länger reifen. Reifenoten zeigt ein Wein, wenn er süß nach Früchten reicht und schmeckt; Alterungsnoten zeigt er, wenn Geruch und Geschmack herber und stumpfer werden. Gute, reife Rieslinge wirken mitunter auch stechend; dann sind sie phenolisch (Phenoltöne erinnern an Tankstelle), was als Edelfirne gilt. Diese ist durchaus ein Qualitätszeichen, aber im wahrsten Sinne des Wortes Geschmackssache.

Es lässt sich jedoch nie im Vorfeld sagen, ob ein alter Wein noch gut ist. Abgesehen von den genannten natürlichen Voraussetzungen hängt das auch von der Lagerung ab. Wein sollte eher dunkel lagern, bei konstanter und eher niedriger Temperatur (10 bis 12 Grad). Je höher die Lagertemperatur, desto schneller reift der Wein. Selbst wenn der Wein bei Zimmertemperatur (ca. 18 Grad) lagert, darf er keinen extremen Temperaturunterschieden ausgesetzt sein. Helles Licht und Temperaturschwankungen beschleunigen den Abbauprozess. Auch sollte der Wein so wenig wie möglich bewegt werden.

Egal, wie ungünstig die äußeren Umstände auch wirken mögen – ich empfehle, jedem Wein eine Chance zu geben. Deshalb auch scheinbar zu alte oder schlecht gelagerte Weine öffnen – behutsam! – und probieren. Man weiß nie sicher, wie sich der Flascheninhalt präsentiert. Im schlimmsten Fall ist man nur um eine Erfahrung reicher.

Was man mit reifen Weißweinen erleben kann, die theoretisch nicht mehr gut sein dürften, zeigt das Beispiel eines 2000er Müller-Thurgau Kabinett aus Franken, den ich vor wenigen Wochen verkostete. Alter (rund zehn Jahre) und Weintyp (Rebsorte, Qualitätsstufe) ließen nicht erwarten, dass das Gewächs noch trinkbar wäre. Doch was ich dann – tief goldgelb – im Glas hatte, zeigte sich frisch in der Nase! Innerhalb der ersten fünf Minuten entwickelten sich grüne Aromen, Cassis, Limone und Grapefruit. Nach zehn Minuten erschienen deutliche Reifenoten, Pfirsich, Quitte, und ein würziger Nachhall stellte sich ein. Nach 15 Minuten dominierte ein schon leicht oxidatives Nussaroma. Nach 20 Minuten schließlich war der Wein firn: bitter, kratzig, dumpf, bereits in der Nase abstoßend. Doch die Viertelstunde, die der Wein noch „gelebt“ hat, bevor der Sauerstoff ihn niederstreckte, war ein faszinierendes und lohnendes Erlebnis. Also: Mut zum Alter – auch bei Weißweinen!