An einem Samstag Nachmittag im November trafen sich bei K&M Gutsweine in Frankfurt-Bockenheim auf Einladung von Mitinhaber Bernd Klingenbrunn sechs Weinprofis – Händler, Journalisten, Liebhaber –, um einige aktuelle Große Gewächse (GGs) zu verkosten. Einer davon war ich.
Großes Gewächs (offizielle Schreibweise „VDP.GROSSES GEWÄCHS“) heißen die trockenen Weine aus „Großen Lagen“ (bezogen auf Mikroklima und Boden besonders hochwertigen Weinbergen) der Mitglieder des Verbands Deutscher Prädikatsweingüter (VDP). In der Probe – zu der jeder der Anwesenden mindestens eine Flasche beitrug – sollte es um Riesling GGs des Jahrgangs 2017 gehen, und nach einem Einstiegswein, der „außer Konkurrenz“ lief, verkosteten wir 16 Gewächse – darunter jedoch auch drei „Piraten“: einen Sortenpiraten (Silvaner statt Riesling), einen Jahrgangspiraten (2014 statt 2017) und einen Klassifikationspiraten (Lagen-Riesing eines Nicht-VDP-Weinguts). Die Probe erfolgte blind und in zufälliger, unsystematischer Reihenfolge.
Uns war und ist bewusst, dass die Großen Gewächse des Jahrgangs 2017 grundsätzlich noch viel zu jung sind, um sie zu trinken; fünf Jahre sollte man wohl jeden dieser Weine liegen lassen, bevor er beginnt, seine ganze Persönlichkeit zu zeigen. Mit unserer Probe in diesem frühen Entwicklungsstadium konnten wir den Gewächsen also nicht wirklich gerecht werden, auch wenn wir ihnen nach dem ersten Verkosten Luft gaben und sie später erneut probierten. Wir hätten sie über mehrere (mindestens zwei bis drei) Tage verkosten müssen, um uns ein verlässliches abschließendes Urteil erlauben zu können, doch das war organisatorisch leider nicht möglich. Insofern nehme man die nachstehenden Degustationsergebnisse als das, was sie sind: Momentaufnahmen, Blitzlichter auf Weine in ihrer frühesten Jugend (eigentlich eher Kindheit). Eine Aussagekraft haben sie dennoch.
Wir begannen zur Einstimmung mit dem 2016 Riesling Steinterrassen trocken von Gut Hermannsberg an der Nahe, der ebenfalls bereits blind ausgeschenkt wurde: in der Nase leicht rauchige Anklänge sowie Noten von Petrol, Limetten, Zitronenmelisse und Dill; im Mund schlank und recht straff mit Aromen von Zitrusfrüchten, Mirabellen und Pfirsichen, präsenter Säure, leicht kräuterigen Tönen, mineralischen Noten, Zug, Griff und gutem Abgang.
Danach verkosteten wir die „offiziellen“ Weine in der angegebenen Probenfolge:
2017 Burrweiler Schäwer Riesling Großes Gewächs trocken, Minges, Pfalz
In der Nase verspielt, klar und tief mit Noten von Aprikosen, Pfirsichen und reifen Birnen, zart kräuterigen Anklängen sowie Aromen von Äpfeln und Zitrusfrüchten; anfangs erscheint auch eine Spur Honig, doch dann wird der Wein kühler und öffnet sich schnell. Im Mund recht kompakt und zupackend, recht fest gebaut, dabei feingliedrig und saftig mit Aromen von Äpfeln und Birnen, gewisser Kraft, Mineralität, Noten von Zitrusfrüchten und Blüten, präsenter, feiner Säure, einem Hauch Gerbstoff, viel Zug und sehr gutem bis langem, feinsaftigem Abgang; mit Luft machen sich zunehmend exotische Anklänge bemerkbar.
2017 Niersteiner Pettenthal Riesling Großes Gewächs trocken, Gunderloch, Rheinhessen
In der Nase erst reduktiv und verschlossen, aber bereits dicht mit Noten von Zitrusfrüchten, Äpfeln und Kräutern sowie leicht rauchigen Tönen. Im Mund kraftvoll und saftig, eng geführt, straff und fest, dabei eher schlank mit Aromen von gelben und weißen Früchten, präsenter Säure, mineralischen Noten und sehr gutem Abgang; anfangs etwas gedeckt und nicht ganz zusammengesetzt, doch mit Luft entwickelt er Zug, findet seine Struktur und packt zu.
2017 Königsbacher Ölberg Riesling trocken, Seckinger, Pfalz
In der Nase anfangs ganz leicht oxidativ wirkend, jedoch fein und komplex mit Noten von Mirabellen, Pfirsichen, weißen Früchten, Blüten und Grapefruits. Im Mund dicht mit gewisser Kraft und viel Schmelz, nussigen Tönen, Aromen von gelbem und weißem Steinobst sowie frischen Äpfeln, präsenter, feiner Säure, mineralischen Noten, gewissem Zug, sehr feinem Gerbstoff, Anklängen an hellen Tabak und sehr gutem, feinsaftigem Abgang; ein außergewöhnlicher und eigenständiger Wein – mit Luft „lichtet sich der Nebel“, formulierte ich.
2017 Dorsheimer Burgberg Riesling Großes Gewächs trocken, Kruger-Rumpf, Nahe
In der Nase elegant mit feinen floralen Noten, Pfirsich- und Zitrusaromen sowie zart kräuterigen Tönen. Im Mund vollfruchtig, geradezu opulent und sehr saftig mit Aromen von gelben Früchten (Pfirsichen, Mirabellen, Äpfeln), präsenter, harmonischer Säure, mineralischen Noten, feinem Schmelz, einer Spur Räucherspeck und sehr gutem Abgang mit Griff und Saft; ein im besten Sinne klassischer Wein, der mit Luft zusehends Präsenz zeigt und Druck aufbaut.
2014 Nackenheimer Rothenberg Riesling Großes Gewächs trocken, Gunderloch, Rheinhessen
In der Nase sehr dicht und kompakt, tief und fein mit Noten von Zitrusfrüchten, grünen Äpfeln und Kräutern sowie Anklängen an Blüten, Schießpulver und Feuerstein. Im Mund sehr geradlinig und anfangs noch verschlossen mit zart rauchiger Holzwürze, Kraft, karamelligem Schmelz, Aromen von Zitrusfrüchten und Mirabellen, steiniger Mineralität, präsenter, sehr feiner Säure und festem, zupackendem, sehr gutem bis langem Abgang mit Zug; ein charaktervoller Wein, der mit Luft einen Anflug von Petrol erhält.
2017 Hatzenporter Kirchberg Riesling Großes Gewächs trocken, Heymann-Löwenstein, Mosel
In der Nase Noten von kandiertem Fenchel, Nüssen, reifen gelben Früchten (vor allem Mirabellen) und Kräutern sowie anfangs einer Spur Räucherfisch, später Anklängen an Jod. Im Mund straff und dicht, geradlinig, kühl und saftig mit Aromen von Zitrusfrüchten, pflanzlich-würzigen Tönen, rauchiger, intensiver Mineralität, präsenter Säure, floralen Anklängen und sehr gutem, feinem Abgang mit Zug und gewisser Kraft; im Stil eher warm, mit Luft gewinnt er schnell immer mehr an Feinheit und Saftigkeit.
2017 Rüdesheimer Berg Rottland Riesling Großes Gewächs trocken, Balthasar Ress, Rheingau
In der Nase fest mit Zitrusaromen sowie käsigen, fein kräuterigen und etwas grün-pflanzlichen Tönen. Im Mund kompakt und sehr eng mit vegetabilen und krautigen Tönen, wiederum Zitrusaromen, präsenter Säure, pflanzlichen und medizinalen Noten, fester Mineralität und zartem Schmelz, jedoch auch bitternd und leicht schärfend mit Anklängen an Sauerkraut und ordentlichem bis gutem Abgang; momentan offenbar ausgesprochen unwillig.
2017 Hattenheimer Wisselbrunnen Riesling Großes Gewächs trocken, Balthasar Ress, Rheingau
In der Nase Noten von Zitrusfrüchten und gelbem Kernobst, vegetabile Anklänge und leicht pflanzliche und nussige Würze. Im Mund kraftvoll und kompakt mit karamelligem Schmelz, Aromen von gelben Früchten, etwas Gerbstoff, präsenter Säure, mineralischen Noten, nussigen Tönen und sehr gutem, ein wenig dropsigem und an Himbeerbonbons erinnerndem Abgang; schwer zu greifen – er „fließt dahin“, notierte ich.
2017 Hatzenporter Stolzenberg Riesling Großes Gewächs trocken, Heymann-Löwenstein, Mosel
In der Nase Noten von Zitrusfrüchten und Pfirsichen sowie pflanzliche und etwas kräuterige Töne. Im Mund klar mit Aromen von Äpfeln, Zitrusfrüchten und Nüssen, präsenter Säure, zartem Schmelz, recht straffer Mineralität, später auch Anklängen an Orangeat, Zimt sowie ein wenig überreife gelbe Früchte und gutem bis sehr gutem Abgang mit Zug; von Anfang an stimmig und mit Luft zunehmend saftig.
2017 Escherndorfer Am Lumpen 1655 Silvaner Großes Gewächs trocken, Horst Sauer, Franken
In der Nase recht kühl und kompakt mit Noten von Pfirsichen, Mirabellen und Zitrusfrüchten sowie fein kräuterigen und etwas rauchigen Anklängen; mit Luft auch vegetabile und nussige Töne. Im Mund verspielte Aromatik mit Elementen von grünen Früchten, Bananen-Weingummi und roten Beeren, pflanzlich-würzigen Tönen, präsenter Säure, mineralischen Noten, zartem Schmelz, später Aromen von Aprikosenkonfitüre und Zitrusfrüchten und gutem bis sehr gutem Abgang mit subtilem, zunehmendem Zug; mit Luft gewinnt der Wein an Länge, Saft und Struktur und zeigt schließlich mehr Sortentypizität mit vegetabilen Noten, Aromen von Birnen und Nüssen und Schmelz.
2017 Escherndorfer Am Lumpen 1655 Riesling Großes Gewächs trocken, Horst Sauer, Franken
In der Nase klare Aromen von Zitrusfrüchten, Blüten, Pfirsichen und Äpfeln. Im Mund geradlinig, saftig, klar und kühl mit Noten von Zitrusfrüchten, Äpfeln und Pfirsichen, präsenter, feiner, reifer Säure, mineralischen Noten und sehr gutem bis langem, feinsaftigem Abgang mit Zug; ein puristischer, sehr sortentypischer Riesling, animierend, präzise und finessenreich.
2017 Winninger Röttgen Riesling Großes Gewächs trocken, Heymann-Löwenstein, Mosel
In der Nase zunächst reduktiv, dahinter nussige, gelbfruchtige, pflanzliche und erdige Töne sowie Noten von Zitrusfrüchten und grünen Äpfeln. Im Mund ausladend mit Aromen von teilweise eingemachten gelben Früchten, krautigen Anklängen, lebendiger Säure, gewisser Kraft, leicht spürbarem Alkohol, zart karamelligem Schmelz, nussigen und erdigen Tönen und recht gutem Abgang; geht in die Breite und wird dann schnell müde, im Nachklang erscheinen Anklänge an weiße Früchte und Minze.
2017 Winninger Uhlen Laubach Riesling Großes Gewächs trocken, Heymann-Löwenstein, Mosel
In der Nase straff mit Noten von Limetten und Äpfeln sowie kräuterigen und etwas erdigen Tönen. Im Mund geradlinig und saftig mit feinem Schmelz, Aromen von Pfirsichen, Mirabellen und Aprikosen, präsenter, feiner Säure, nussig-würzigen Anklängen und sehr gutem Abgang; gewisse Kraft, eher warmer Stil.
2017 Rüdesheimer Berg Schlossberg Riesling Großes Gewächs trocken, Balthasar Ress, Rheingau
In der Nase leicht medizinale, nussige und grün-pflanzliche Töne sowie Noten von Zitrusfrüchten und Pfirsichen. Im Mund Aromen von Nüssen, Karamell, gelben Früchten und etwas Tee, mineralische Noten, metallische Nuancen, präsente Säure und guter, sehr gehaltvoller Abgang; der Wein wirkt momentan überzogen und unharmonisch und zeigt auch leicht seifige und vegetabile Anklänge.
2017 Winninger Uhlen Blaufüßer Lay Riesling Großes Gewächs trocken, Heymann-Löwenstein, Mosel
In der Nase zunächst leicht reduktiv, dahinter Zitrus- und Apfelnoten sowie ein wenig vegetabile Anklänge. Im Mund geradlinig und zunehmend saftig mit etwas exotischen Tönen, Aromen von Zitrusfrüchten und Mirabellen, präsenter Säure, gewisser Kraft, Anklängen an Orangenmarmelade, zarter floral-kräuteriger Würze, erdig-mineralischen Noten, leicht süßlichem Schmelz und gutem bis sehr gutem Abgang.
2017 Niederhäuser Hermannshöhle Riesling Großes Gewächs trocken, Dönnhoff, Nahe
In der Nase tief und dicht mit Noten von Zitrusfrüchten, Äpfeln, Pfirsichen und Blüten. Im Mund straff, sehr fein und saftig, animierend und mineralisch geprägt mit Aromen von Zitrusfrüchten, Äpfeln und Blüten, subtiler Kraft, präsenter, feiner Säure, Zug und langem Abgang; ein in sich ruhender Wein mit bemerkenswerter Finesse.
Im Anschluss an die Probe fragten wir von allen Teilnehmern die jeweiligen „Top 5“ ab, und meine Favoriten deckten sich größtenteils mit denen der anderen:
- 2017 Hermannshöhle Riesling GG, Dönnhoff
- 2014 Rothenberg Riesling GG, Gunderloch
- 2017 Am Lumpen 1655 Riesling GG, Sauer
- 2017 Schäwer Riesling GG, Minges
- 2017 Burgberg Riesling GG, Kruger-Rumpf
Die ersten drei Plätze waren bei allen Mitwirkenden identisch, danach kam nach allgemeinem Urteil aber vor dem Schäwer von Minges noch der 2017 Am Lumpen 1655 Silvaner GG von Sauer (der bei mir fast gleichauf mit dem Burgberg von Kruger-Rumpf lag). Insofern kann man durchaus von einem konsistenten Ergebnis der Verkostung sprechen.
Einig waren wir uns auch in zwei weiteren Punkten: Die Weine von Heymann-Löwenstein blieben hinter unseren Erwartungen zurück – wobei klar ist, dass diese Gewächse immer sehr eigenständig und anspruchsvoll sind. Dass hier jedoch die Hatzenporter Lagen vor den Winninger rangierten, war ungewöhnlich. Und die Großen Gewächse von Ress waren sämtlich nicht mehr als eine große Enttäuschung. Aufgrund meiner Erfahrungen in der Vergangenheit darf ich mir anmaßen zu behaupten, dass ich die Weine bisher verstanden habe, doch diese GGs ließen uns alle ratlos bis geradezu bestürzt zurück. Man kann nur hoffen, dass sie gerade eine sehr schwierige Phase durchmachen und irgendwann zugänglicher und aufgeräumter werden. (Es gibt übrigens in der Fachpresse auch genug positive Urteile: Chefredakteur Sascha Speicher von meiningers sommelier beispielsweise sieht sich in Ausgabe 4/2018 des Magazins von Heymann-Löwenstein „auf ganzer Linie überzeugt“ und zählt Ress zur „Führungsgruppe des VDP-Rheingau“.)
Eine Überraschung im positiven Sinne waren für mich die Weine von Gunderloch, die ich bisher kaum je so stark erlebt habe. Der Pettenthal gewann mit Luft erheblich an Ausdruckskraft und zeigte großes Potenzial, und der 2014er Rothenberg kam nicht ohne Grund für alle auf Platz zwei – ein beeindruckender Charakter-Riesling, der von seiner sensorischen Anmutung her auch so jung wie die anderen GGs hätte sein können und ebenfalls noch eine große Zukunft vor sich hat. Über allem schwebte jedoch unangefochten die Hermannshöhle von Dönnhoff, die in dieser Probe den Maßstab für ein wirklich großes Riesling-Gewächs setzte.
Mein Dank gilt Gastgeber Bernd Klingenbrunn und den engagierten Mitstreitern, die mit ihren Wein- und Wortbeiträgen diese GG-Verkostung zu einer – wie ich schon auf Facebook geschrieben habe – „konzentrierten, kurzweiligen und erkenntnisreichen“ Veranstaltung machten: „Das hat viel Spaß gemacht und war eine bereichernde Erfahrung.“ Exakt!