Kollegen waren versucht, mir zu unterstellen, dass meine Weinleidenschaft „pathologisch“ sei, denn nach dem Ball des Weines in Wiesbaden und einem intensiven Verkostungstag auf der VDP-Weinbörse in Mainz – während dessen ich in rund acht Stunden 26 Weingüter besuchte und über 125 Weine probierte – folgte ich gern der Einladung des Domdechant Werner‘schen Weinguts in Hochheim zu einer intimen Probe gereifter Rieslinge im Gutshaus.
Tatsächlich fand sich am Abend des Messesonntags nicht mehr als buchstäblich eine Handvoll Gäste auf der Terrasse mit Blick über die Weinberge ein. Bevor es in den Salon zur Verkostung ging, begrüßte Dr. Franz Werner Michel als Gastgeber die kleine Runde, der auch seine Frau Oda sowie seine Tochter Catharina und ihr Mann Conrad Mauritz angehörten. Da zwei der Gäste aus Norwegen kamen, fand die Konversation überwiegend auf Englisch statt, und während der Probe und des anschließenden Essens entspann sich eine angeregte Unterhaltung, deren Themen vom Rheingauer Terroir über die Geschichte der Familien Werner und Michel bis zum skandinavischen Weinmarkt reichten.
Zur Verkostung kamen zunächst fünf Riesling Auslesen aus den Hochheimer Spitzenlagen Domdechaney und Kirchenstück, die einen Zeitraum von 35 Jahren umspannten:
2011 Hochheimer Domdechaney Riesling Auslese
Pfirsich, kandierte Zitrusfrüchte, Honig, pflanzlich, zarte Kräuterwürze, erdige Mineralität, eingebundene Säure
2006 Hochheimer Kirchenstück Riesling Auslese
etwas Petrol, Zitrusfrüchte (vor allem Orangen), Ananas, Kräuter, etwas Karamell, feine Säure, Schmelz, weich, saftig, lang, subtil
1992 Hochheimer Kirchenstück Riesling Auslese
Kräuter, erdig, getrocknete Blüten, teilweise getrocknete Zitrusfrüchte, kandierte Orangen, Blütenhonig, feines Karamell, Kandis, feine, lebendige Säure, fest und straff, nachhaltig, noch jung
1986 Hochheimer Domdechaney Riesling Auslese
Reifenoten, Nüsse, kandierte Zitrusfrüchte, getrocknete Pflanzen, etwas Kräuter, dunkles Karamell, Esskastanien, salzige Mineralität, präsente Säure, straff, seidig
1976 Hochheimer Domdechaney Riesling Auslese
Minze, teils getrocknete, teils kandierte Zitrusfrüchte, Aprikosen, Kräuter, kandierter Fenchel, Karamell, Kandis, Nüsse, feine Säure, Mineralität, fein, nachhaltig, sehr lebendig
Die Finesse und die Frische der Weine – gerade derjenigen, die rund 30 und 40 Jahre alt waren – bewiesen eindrucksvoll die Qualität und das Reifepotenzial der Hochheimer Rieslinge, und alle Anwesenden waren sehr angetan von den ausgeschenkten Kostbarkeiten. Wie Dr. Michel beklagte, würden reife Weine jedoch kaum nachgefragt und hätten sogar in der gehobenen Gastronomie einen schweren Stand – und das, obwohl sie erstens noch erhältlich und zweitens sogar absolut erschwinglich sind.
Nach der Degustation bat die Dame des Hauses zu Tisch, und zu den vorbereiteten drei Gängen durfte die Gesellschaft aus einem guten Dutzend bereitgestellter Weiß-, Rosé- und Rotweine auswählen und alle möglichen Kombinationen durchprobieren – kulinarisch ebenso wie kommunikativ ein lohnendes Programm.
Zur Avocado mit Shrimps-Cocktail erwies sich der Riesling Classic trocken 2012 als exzellenter Begleiter. Für mich zählen die Classic-Rieslinge von Domdechant Werner ohnehin schon seit Jahren zu den besten ihrer Art in ganz Deutschland, und der Jahrgang 2012 brachte hier die richtige Würze und ein angenehmes Süße-Säure-Spiel mit.
Zur Lammkeule mit Kartoffelpüree und Wurzelgemüse war mein Favorit der Frühburgunder trocken 2012 mit dunkler Beeren- und Kirschfrucht sowie erdiger und zart holziger Würze. Im Gegensatz zu vielen extrem holzbetonten Exemplaren von der Ahr zeigte er die burgundertypische Eleganz und hatte dennoch genug Kraft, um sich gegenüber dem deftigen Fleisch zu behaupten. Erstaunlicherweise passte jedoch fast genauso gut auch ein Weißwein dazu: der Hochheimer Domdechaney Riesling Goldkapsel trocken 2012. Obwohl für sich genommen der Sorte und dem Stil des Hauses entsprechend filigran in der Art, entwickelte er aus seiner Frucht heraus eine beachtliche Kraft und setzte mit seinen Steinobst-Aromen einen reizvollen Akzent, in dem nichts störte und nichts fehlte.
Zur abschließenden Käseauswahl wurde zwar sogar noch eine Hochheimer Kirchenstück Riesling Beerenauslese 2013 gereicht, doch sie war dazu für meinen Geschmack zu konzentriert (und überdies natürlich um Jahrzehnte zu jung). Stattdessen tat sich hier die Hochheimer Kirchenstück Riesling Auslese 1992 wiederum positiv hervor und machte sowohl zu Kuh als auch zu Ziege eine ausgesprochen gute Figur. Die Beerenauslese ersetzte dafür in nobelster Weise gewissermaßen das Dessert.
Familie Michel und Familie Mauritz gebührt mein großer Dank für ihre herzliche Gastfreundschaft an diesem stimmungsvollen und genussreichen Abend, der einen exquisiten Abschluss des weinseligen letzten Wochenendes im April bildete.