Ich kann jedem nur empfehlen, sich einen guten Freund mit einem mindestens ebenso guten Weinrestaurant in der Nähe eines Fernbahnhofs anzuschaffen. Mir, dem dieses Privileg vergönnt ist, hat das heute Abend... naja, nicht das Leben gerettet, aber eine herrlich verrückte und genussreiche halbe Stunde beschert, für die eine so große Verkettung glücklicher Umstände ursächlich war, dass es eigentlich schon kein Zufall mehr sein kann.
Folgendes trug sich zu:
Auf der Fahrt von Nürnberg ins Ruhrgebiet saß ich im ICE-Bordrestaurant bei 2013er Weißburgunder trocken von Heinrich Vollmer und las in meinem Buch, als es hinter mir einen heftigen Schlag tat. Es war ein plötzliches, lautes und unangenehmes Geräusch, und danach war die Fensterscheibe am Tisch hinter mir zersplittert. Da es sich jedoch um Sicherheitsglas handelt, das nur in mehrfachen Anläufen (etwa von innen mit dem Nothammer) zertrümmert werden kann, war sie nicht vollständig geborsten – wir wurden also nicht weggeweht –, sondern lediglich die äußere Scheibe war in unzählige Mosaikteile zersprungen; die innere Scheibe war intakt.
Was die Ursache für diesen Schaden war, blieb trotz sofort im Waggon einsetzender wilder Spekulationen rätselhaft – die Mutmaßungen reichten von Steinschlag bis Schuss –, jedenfalls stand bei der wenige Minuten später erfolgenden Einfahrt in den Bahnhof Frankfurt Süd fest, dass der Zug nicht würde weiterfahren können. Da die Fahrt über die Hochgeschwindigkeitsstrecke Richtung Köln führen sollte, war die Weiterfahrt mit dem beschädigten Fenster – abgesehen vom fraglichen Auslöser des Schadens – aus Sicherheitsgründen ausgeschlossen. Aufgrund der Verkehrszeit am frühen Abend bestand unser Zug aus zwei aneinander gekoppelten ICEs, und diese wurden nun getrennt: Der Zugteil, in dem ich saß, blieb in Frankfurt, und alle Fahrgäste wurden aufgefordert, in den anderen Teil umzusteigen, der dann Richtung Dortmund weiterfuhr.
Auch wer nicht oft mit der Bahn fährt, wird sich vorstellen können, was das hieß:
Ein Zug hatte mit einem Mal die doppelte Passagierzahl aufzunehmen. Noch vor dem Aussteigen entschied ich, dass ich das nicht mitmachen würde, und fand mich beim Entlanggehen am Zug bestätigt: Die Menschen standen und hockten in den Gängen und in den Türräumen; das noch fast zwei Fahrtstunden ebenfalls zu tun, hatte ich keine Lust.
Und hier kommen zwei Zufälle (oder vielleicht eben auch Fügungen) zusammen: Erstens war ausgerechnet Frankfurt der „Schicksalsbahnhof“, in dem der Zug geteilt wurde, also die Stadt, mit der ich mit am besten überhaupt vertraut bin. Und zweitens halten die meisten Fernzüge wegen Bauarbeiten derzeit nicht in Frankfurt Hauptbahnhof, sondern eben am Südbahnhof – und kaum 200 Meter Fußweg von dort liegt das Grand Cru, das famose Weinrestaurant meines Freundes Kai Buhrfeindt. Dorthin ging ich kurzerhand, um die Zeit zu überbrücken, bis der nächste ICE nach Essen fuhr; eine Dreiviertelstunde später.
Der Zufall (also, schon wieder einer) wollte es, dass im Restaurant erstens wenig los war, zweitens Kai selbst zugegen war und er drittens gerade Besuch von zwei Weinvertretern gehabt hatte. Auf einem der aus Weinfässern gefertigten Stehtische war eine gute Handvoll Flaschen aufgebaut, und so gab es nicht nur ein großes Hallo ob meines unverhofften Auftauchens, sondern auch eine spontane Probe von fünf Weißweinen – von 2013 bis 2001!
Innerhalb einer energiegeladenen halben Stunde verkosteten wir gemeinsam mit Sommelier Timothy Claus 2013er Riesling trocken von Wegeler (unkomplizierter, süffiger, mir aber ein wenig zu süßlicher Gutswein), 2012er Sonnenuhr Riesling GG von Wegeler (ganz leicht petrolig, gut strukturiert und mit moseltypischer Finesse), 2012 Berg Schlossberg Riesling GG von Wegeler (noch straffer, mineralischer, kühler und saftiger als die Sonnenuhr), 2009er Weißburgunder trocken vom Weingut Krone (feine Holzwürze, geradlinige Frucht und viel Schmelz) und 2001er Geheimrat J Riesling Spätlese trocken von Wegeler (voll jugendlicher Frische und Kraft, feinfruchtig, mineralisch und saftig).
Nach dieser improvisierten, gleichwohl konzentrierten und Profis würdigen Probe verschwand ich ebenso schnell wieder, wie ich gekommen war, eilte zum Bahnhof und sitze jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, wieder im ICE. In mir herrschen tiefe Befriedigung und Erheiterung darüber, spontan genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben. An diesen Abend – was sage ich: an diese unvorhergesehene halbe Stunde werden Kai und ich uns noch in vielen Jahren erinnern, denn sie war einer der Momente, die das Leben ausmachen: absolut ungeplant, aber dicht und sinnlich im Erlebnis. Ich wünsche Ihnen und euch allen so oft wie möglich Ähnliches!