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Am deutlichsten spürt man es, wenn man allein ist. (Ich hätte auch gleich „isst“ schreiben können, denn wenn ich allein bin, trinke ich Wein allenfalls zum Essen; und es geht ums Weintrinken.) Es geht um das erste Glas Wein des Abends (oder von mir aus des Tages), um den Moment, wenn der Alkohol allmählich, aber beständig seine Wirkung entfaltet.

Wir reden von 0,1 bis 0,2 Liter Wein – einem Glas eben –, und wir setzen voraus, dass es ein Wein ist, der sich mit Genuss, zumindest aber ohne Langeweile oder Angestrengtheit trinken lässt; nichts irrsinnig Beanspruchendes, aber auch nichts wirklich Banales. Wein schmeckt die Zunge an diesem Tag zum ersten Mal, er breitet sich sukzessive im Mundraum aus, die Aromen erkunden den Gaumen, der Wein etabliert sich sozusagen sensorisch. Gewissermaßen wird das Geschmackszentrum (wie zuvor das Weinglas) aviniert.

Und etwa bei zwei Dritteln oder drei Vierteln dieses ersten Glases Wein (0,2 Liter) oder, sagen wir, nach dem ersten Achtel beginnt der Alkohol zu wirken. Erst ganz zaghaft, aber merklich und nicht zu ignorieren. Eine Ahnung von Rausch setzt ein. Man fühlt sich beschwingt und gelöst, ist guter Stimmung und spürt positive Energie in sich, man ist aufgeschlossen und hätte in diesem Moment keine (oder jedenfalls weniger) Hemmungen, fremde Leute anzusprechen oder eine Rede zu halten, man ist kontaktfreudiger und kommunikativer und auch kreativer; das ist die Phase der geistreichen Einfälle und Äußerungen. Dieser Zustand, dieses Empfinden und Erleben ist es – denke ich –, den bzw. das wir suchen, wenn wir ein Glas Wein trinken. Und ich glaube, dass dieser Moment sich nur mit Wein (explizit einschließlich Schaumwein) so bewusst und so schön erfahren lässt, mit keinem anderen alkoholischen Getränk (Spirituosen überspringen diese Schwelle, und zu Bier kann ich nichts sagen, weil ich es nicht trinke).

Dieses Hochgefühl bei vollem Bewusstsein (und nicht eine diffuse und kaum mehr kontrollierbare Euphorie, wie sie bei stärkerem Alkoholkonsum auftreten kann) ist etwas ganz Besonderes, und es gibt diese Phase nur einmal am Tag – eben beim ersten Glas Wein. Der Moment ist da, ist manifest, und es gilt ihn wahrzunehmen und auszukosten, denn er ist auch schnell wieder weg: Entweder löst sich – mit ausreichender Wasser- oder zumindest keiner weiteren Alkoholzufuhr – der leichte Dunst wieder auf, und der Himmel (der Kopf) wird wieder klar; dann war es wie ein wohliger Traum. Oder der Nebel verdichtet sich – wenn man weiter Alkohol trinkt –, die Wahrnehmung wird dumpf und verschwommen, die Stimmung überreizt, und statt angenehmer Anregung folgt erst eine Übersteigerung der Gefühle (positiv wie negativ) und dann eine eigentümliche Taubheit und Lähmung.

Nennen wir den „Wirkungsmoment“ pathetisch ein flüchtiges kleines Glück – aber es gibt ihn, jeder Weinfreund kennt ihn, und er ist kostbar. Erleben wir ihn bewusst. Nicht unbedingt jeden Tag und auch nicht mit dem Ziel, danach weiterzutrinken(!). Aber wenn wir das erste Glas Wein genießen, dann sollten wir es mit allen Sinnen tun und uns auf den magischen Moment einstellen; und, wenn er da ist, uns ihm hingeben. Dieser Moment eröffnet neue Horizonte und wirkt befreiend. Er ist eher ein kurzer Schwebezustand als ein Höhenflug – denn die Landung auf dem Boden sollte anschließend noch aus eigener Kraft erfolgen können und möglichst sanft sein.