... oder: „Die Zeit verrinnt – wie schnell ist nichts getrunken!“ Dieser Ausspruch stammt von Harry H. Hochheimer, Inhaber der gleichnamigen Wein- und Gastronomieberatung in Kelkheim. Er und seine Lebensgefährtin Chris Hörle hatten zu einer Weindegustation in Chris‘ Weinschänke „Zur alten Schmiede“ in Frankfurt-Nied geladen – und zwar ausschließlich schwule Gäste.
Wir saßen trotz wechselhaften Wetters draußen, weil überdacht. Und Harry hatte sage und schreibe 16 Weine aus seinem reichhaltigen Keller bereitgestellt, darunter zwei Magnums. Es waren überwiegend deutlich gereifte Gewächse, und sie kamen aus Deutschland, Frankreich, Spanien und Österreich. Wir verkosteten sie der Reihe nach, und – wie das so ist – jeder hatte seine Vorlieben. Alles vollzog sich in lockerem Rahmen, es wurde geplaudert und gelacht, aber natürlich auch gefachsimpelt, zumal viele Gastronomieprofis dabei waren.
1988 Geheimrat J Riesling trocken, Weingüter Wegeler, Rheingau, Deutschland
zart laktisch, Karamell, feine Mineralik, ein wenig Petrol, Zitrusfrüchte, Quitte, Apfel, Kumquat, leicht kräuterige Würze
nach vier Stunden an der Luft: vegetabil, nussig, Sahnekaramell, Zitronenmelisse, Tabak, Nougat, Kräuter; der Todeskuss ist deutlich spürbar
Zu essen gab es während der Verkostung auch: Frankfurter Sülze mit Rindfleisch und Wurzelgemüse, gekrönt von Apfelwein-Meerrettich-Schaum; kleine Frikadellen; Pfannkuchen-Rouladen mit Shrimps und Räucherlachs; Selleriesuppe; Spießbraten mit selbst gemachtem Kartoffelsalat; Mousse au chocolat mit Kirschgrütze. So konnten die Weine auch unter Beweis stellen, womit sie gut harmonierten – was wiederum reichlich Gesprächsstoff bot.
1999 Mimus weiß, Weingut Dr. Heger, Baden, Deutschland
Cuvée aus Chardonnay, Grauburgunder und Weißburgunder; Reifenoten, nussig, gelbfruchtig, buttrig, Schmelz, Mokka, Gewürze, vegetabil, straff, etwas Karamell
Einer der Gäste war Fernsehkoch Mirko Reeh, der eine Menge Anekdoten zu erzählen hatte, darunter die folgende: In einer seiner Sendungen war ein bekannter deutscher Sänger zu Gast, und nach dem Dreh nahm dieser aus Mirkos Laden in der Kochschule Küchenartikel im Wert von rund 250 Euro mit. Schön, wenn ihm das so gefallen hat, könnte man denken. Doch nachdem Mirko die Rechnung an das Büro des Künstlers übersandt hatte, erhielt er von dort einen irritierten Anruf: Da sei eine Rechnung für Küchenutensilien eingegangen. Ja, Herr B. [aus Gründen der Diskretion nenne ich den Namen hier nicht] habe diese Artikel nach der Sendung eingepackt, erklärte Mirko, und die Rechnung habe er nun im Nachgang zugeschickt, damit die Waren bezahlt werden könnten. „Aber Herr B. zahlt nie!“, war die entgeisterte Antwort. Etwas später meldete sich telefonisch auch noch der Hessische Rundfunk, für den die Kochshow produziert worden war, bei Mirko. Die Redaktion habe eine Beschwerde des Büros des besagten Sängers erhalten: Dieser solle für mitgenommene Küchenartikel zahlen? Auch hier klang Verständnislosigkeit an, viel mehr aber wohl noch eine gewisse Servilität: Mirko solle die Rechnung an den HR schicken, dieser werde sie übernehmen. Willkommen im hoch politischen Show-Business!
2007 Ihringer Winklerberg Weißburgunder trocken, Weingut Dr. Heger, Baden, Deutschland
zart nussig, Kernobst, pflanzlich, Orangenzeste, straff, Schliff, geradling, leicht süßlicher Schmelz
Wie gesagt, waren unter den Gästen in der „Schmiede“ zahlreiche mit gastronomischen Hintergrund – und diese lieferten interessante, allerdings eher beunruhigende Einblicke in den heutigen Qualifikationsstand im Gastgewerbe. Drei der Anwesenden sind als Prüfer für die einschlägigen Ausbildungsberufe und/oder angehende Restaurant- und Küchenmeister tätig, und sie beklagten, das das Niveau, auf dem die Kandidatinnen und Kandidaten antreten, immer niedriger werde. In der Fortbildung zum Restaurantmeister sagte den Berichten zufolge eine erwachsene Frau mit – so sollte man meinen – entsprechender Branchenerfahrung, das Thema Wein interessiere sie nicht, und das brauche sie ja als Meisterin auch nicht, sie gehe jetzt. Allgemein entstand so das Bild von nicht im Ansatz motivierten, vollständig ahnungslosen und oft geradezu unverschämten Nachwuchs(fach?)kräften – traurig und bedenklich!
1994 Wallufer Walkenberg Spätburgunder Spätlese trocken,
Weingut J.B. Becker, Rheingau, Deutschland
kühl, geschliffen, Kirschen, rote und schwarze Beeren, leicht animalisch, fein gewürzig, Champignons, Laub, erdig, leicht süßlicher Schmelz, Pflaumenmus, mineralischer Nerv, Brombeergelee, elegant, zeitlos – ein Traum!
In seiner unnachahmlichen Art – für die er berühmt und berüchtigt ist – steuerte Harry auch immer wieder humorvolle Sprüche bei, etwa: „Was ist ein Sommelier? Ein Sommelier ist ein Kellner, der keine drei Teller tragen kann und deswegen flaschenweise Wein verkaufen muss.“ Oder: „Lieber Gans und gar als Ente und roh“ (was logischerweise gesprochen lustiger wirkt als geschrieben, da man zuerst natürlich „ganz und gar“ versteht).
1982 Gran Reserva Selección Especial, Bodegas Montecillo, Rioja, Spanien
animalisch, zedrig, dunkle Beeren (vor allem Brombeeren), deutlich Leder, Teer, Pfeffer, leicht gereift, Pflaumenmus, Gewürze, Kaffee, Veilchen, Tabak, Schwarzkirschen
Was mir überdies besonders gefiel: Harry hatte zur Untermalung des geselligen und kulinarisch hochwertigen Treibens Schlager-Radio eingestellt, und so begleiteten uns auch noch die deutschen Stars der Siebziger und Achtziger bei unserer Genussreise durch den Nachmittag. (Sämtliche der Anwesenden haben die damalige Zeit übrigens bewusst miterlebt, und sei es in ihren ersten Lebensjahren. Einige, wie ich, haben sich ihre Liebe zu diesen Hits bewahrt.)
2007 Pommard, Bouchard Père et Fils, Burgund, Frankreich
animalisch, Pfeffer, Gewürze, etwas speckiges Holz, Senfsamen, Lorbeer, dunkle Beeren, mürb, Schokolade, getrocknete Kräuter, fein, geschliffen, elegant, Schwarzkirsche, Pflaume, Tabak; schlanke, straffe Art, noch viel zu jung
Eins zeigte sich ganz deutlich: Die Weine, gerade die älteren, brauchten Luft. Einige dekantierten wir, und alle entwickelten sich erst im Glas allmählich. Wir hätten ihnen auch noch mehr Zeit geben sollen, und viel zu selten nutzen wir die Gelegenheit, einen Wein nach mehreren Stunden Sauerstoffkontakt nochmals zu probieren. Das sollten wir bei einer Fortsetzung des Events – die bereits beschlossen ist – berücksichtigen, um die Weine in ihrer gesamten Entfaltung zu erleben; in einigen Fällen (siehe oben beim Geheimrat J oder auch beim Mimus) bauten sie dann erkennbar ab, und wir haben sicher nicht jedes Stadium bis zu diesem Zeitpunkt erfasst.
1997 Barsac, Château Saint-Marc, Sauternes, Frankreich
medizinal, Jod, getrocknete Aprikose, getrocknete Kräuter, viel Schmelz, Agave (an Tequila erinnernd), Marzipan, sehr straff, fein, Zimt, Kandis, etwas Akazienhonig, Minze
Noch ein Wort zu der Gesellschaft dieses Nachmittags: Wieso war sie – abgesehen von den Gastgebern – rein schwul und was bedeutete das? Nun, Chris und Harry haben eine große Zahl homosexueller Bekannter und Freunde (und ich freue mich, dazu zu gehören). Sie mögen die Stimmung, die in einer solchen gleichgeschlechtlichen und ebenso orientierten Runde aufkommt – wobei diese jedoch, wie ich gerade feststelle, schwer zu beschreiben ist. Es ist ein Miteinander, das eben auf einer wesentlichen Gemeinsamkeit beruht, mit einer gewissen subtilen Vertrautheit, die sich auch beim Erstkontakt sofort einstellt, mit einem speziellen Humor, mit nicht erklärungsbedürftigen Gesprächsthemen aus der gemeinsamen Erlebniswelt, mit scherzhaftem Geplänkel, mit zweideutigen Bemerkungen und eindeutigen Anspielungen, eventuell mit Flirtoptionen und definitiv mit der Möglichkeit, dass jeder sich ganz so geben kann, wie er ist, ohne dass jemand anderer daran Anstoß nehmen könnte.
2001 Château Haut-Brion Pessac-Léognan Premier Grand Cru Classé de Graves, Bordeaux, Frankreich
animalisch, dunkle Beeren, getrocknete Kräuter, Tabak, Trüffel, Leder, Unterholz, zedrig, Schwarzkirsche, gewürzig, Pfeffer, Oliventapenade, etwas Lorbeer, erdig, Pilze, getrocknete Blüten, viel Schliff, Nachhaltigkeit, Länge
Wir verkosteten die Weine in der hier angegebenen Reihenfolge, die Harry – teilweise in Absprache mit mir – festlegte. Dabei kamen gar nicht alle vorbereiteten Weine zum Ausschank, doch das war auch nicht zwingend gedacht. In sechs gemütlichen, anregenden und genussreichen Stunden hatten wir die acht beschriebenen (sowie zwei weitere, für mich jedoch eher vernachlässigbare) Gewächse, und Harry schätzte den Wert der ausgeschenkten Flaschen auf rund 2000 Euro.
Ihm und Chris sei für diese Großzügigkeit und den höchst gelungenen Nachmittag von Herzen gedankt – und ich freue mich schon sehr auf die nächste Degustation dieser Art.