Während in Mitteleuropa langsam, aber unausweichlich der Herbst Einzug hält, besteht in Südfrankreich Mitte September noch die Chance, einen mediterranen Spätsommer zu erleben. Auf den Autokennzeichen hier steht „PACA“ und „13“. PACA ist die Abkürzung für die französische Region Provence-Alpes-Côte d’Azur, 13 ist die Nummer des Départements Bouches-du-Rhône.
Wir sind in Marseille, der zweitgrößten Stadt Frankreichs nach Paris. Sie hat selbst keine geschützte Herkunftsbezeichnung für Weine, ist jedoch umgeben von zahlreichen Weinbaugebieten der Provence und der Rhône. Am nächsten liegen die geschützten Herkunftsbezeichnungen (AOP = Appellation d’Origine Protégée) Cassis, Coteaux d’Aix-en-Provence und Palette. Darüber hinaus sind 15 Gemeinden im Département Bouches-du-Rhône für die AOP Côtes de Provence zugelassen.
AOPs rund um Marseille
Die AOP Cassis ist nach der kleinen Hafenstadt benannt, die knapp 20 Kilometer östlich von Marseille liegt. Die Rebfläche umfasst 180 Hektar. Zu gut zwei Dritteln besteht die Weinproduktion aus Weißweinen, die aus den Rebsorten Clairette, Marsanne, Ugni Blanc, Pascal Blanc, Bourboulenc und Sauvignon Blanc gewonnen werden. Für die Roséweine (20 %) und Rotweine (10 %) werden Grenache Noir, Carignan Noir, Mourvèdre, Cinsault und Barbaroux verwendet.
Die AOP Coteaux d’Aix-en-Provence, benannt nach der 30 Kilometer nördlich von Marseille gelegenen Stadt, umfasst und 3.800 Hektar Rebfläche in 49 Gemeinden. Über die Hälfte der Weinproduktion besteht aus Roséweinen, 40 Prozent entfallen auf Rotweine. Als rote Rebsorten werden Grenache Noir, Cinsault, Counoise, Mourvèdre, Syrah, Cabernet Sauvignon und Carignan Noir kultiviert, als weiße Rebsorten Bourboulenc, Clairette, Grenache Blanc, Vermentino, Ugni Blanc, Sauvignon Blanc und Sémillon.
Die AOP Palette liegt südöstlich der Stadt Aix-en-Provence und gilt als Cru der Appellation Coteaux d’Aix-en-Provence. Die 40 Hektar Weinberge verteilen sich auf die beiden Gemeinden Meyreuil und Le Tholonet sowie einige Parzellen in Aix-en-Provence. Zugelassen sind 30 Rebsorten, von denen einige sehr selten sind. Die wichtigsten roten Sorten sind Mourvèdre, Grenache Noir, Cinsault, Brun Fourca, Cabernet Sauvignon, Carignan Noir, Castets, Durif, Muscat d’Hamburg, Syrah, Teoulier Noir und Tibouren, die wichtigsten weißen Sorten sind Clairette, Picardan, Colombard, Grenache Blanc, Muscat Blanc, Pascal Blanc, Piquepoul Blanc, Terret Gris und Ugni Blanc.
Die große AOP Côtes de Provence umfasst rund 20.000 Hektar Rebfläche in den drei Départements Var, Bouches-du-Rhône und Alpes-Maritimes. Die Weinberge liegen im Nordosten und Osten von Marseille. Rund 80 Prozent der Produktion sind Roséweine. Als rote Rebsorten werden Cinsault, Grenache Noir, Mourvèdre, Syrah, Barbaroux, Cabernet Sauvignon, Calitor Noir und Carignan Noir angebaut, als weiße Sorten Clairette, Sémillon, Ugni Blanc und Vermentino.
Wein erleben in Marseille
Das Wahrzeichen von Marseille ist die Basilika Notre Dame de la Garde. Sie thront hoch über der Stadt und ist bereits bei der Anreise sichtbar – sowohl von der Autobahn aus Richtung Norden als auch vom Bahnhofsvorplatz. Auch der Bahnhof Saint-Charles liegt erhöht, denn die Topographie von Marseille ist sehr hügelig. Man fühlt sich zuweilen an San Francisco erinnert. „In Marseille ist es unvermeidlich, rauf und runter zu gehen“, sagt Beatrice Manzato vom Tourismusbüro der Region PACA. Für Fahrradfahrer sei das schwierig. Vielleicht gibt es in der Stadt auch deshalb so viele Motorroller und Motorräder, deren Lärm und Abgase nicht zu ignorieren sind.
Marseille ist eine Großstadt, eine Hafenstadt und eine Stadt des Südens: lebendig, geschäftig und wie alle Städte dieser Kategorie sicher nicht die sauberste und ruhigste – aber mit einem einzigartigen mediterranen und maritimen Flair. „Marseille ist ehrlich, hier wird nichts versteckt“, formuliert es Beatrice Manzato. Am Vieux Port, dem Alten Hafen, herrscht rund um die Uhr Trubel. Oberhalb der Hafenpassage liegt der Pharo, ein Palast mit Park, wo die Aussicht auf das Meer am schönsten ist. Die Nähe zu Afrika zeigt sich im Stadtbild in Menschen, Gastronomie und Kultur. Viele Einwanderer kamen mit der zweiten Welle aus Algerien; die erste Welle ging von Italien aus.
„Nach der Covid-Pandemie haben in Marseille viele Restaurants und Weinbars neu aufgemacht“, berichtet Beatrice. Ein touristischer Geheimtipp sei derzeit noch die Côte Bleue westlich von Marseille. Dort habe im Sommer 2024 in Carry-le-Rouet das „Hôtel Bleu“ als erstes Vier-Sterne-Haus in diesem Küstenabschnitt eröffnet.
Inspiration und Nostalgie
Ich bin nach Marseille gekommen, um der Frage nachzugehen, wie hier die regionale Weinkultur aussieht. Inspiriert dazu hat mich mein erster Besuch in der Stadt vor drei Jahren. Damals entdeckte ich in einer Seitengasse am Vieux Port das Restaurant „La Table du Fort“ von Stéphanie Luer und Michel Giuliani. Dort habe ich an zwei Abenden vorzüglich gespeist und die Weine der AOP Cassis kennengelernt. Michel stammt aus Cassis und hatte die Weinkarte auf seinen Heimatort ausgerichtet. Auch jetzt wollte ich wieder ins „La Table du Fort“, doch zu meinem großen Bedauern musste ich beim Versuch, einen Tisch zu reservieren, feststellen, dass sich das Restaurant seit März dieses Jahres in Liquidation befindet. Ein betrüblicher Verlust!
Mein Besuch in der dritten Septemberwoche dieses Jahres offenbarte mir jedoch mehr als genug andere Orte von Genuss und Gastlichkeit – und interessante Erkenntnisse über die regionale Weinkultur in Marseille. Sie ist nämlich abhängig von der Jahreszeit und davon, wie weit man die Region definiert.
Notre Dame de la Garde und Grenadine
Um einen ersten Eindruck von Marseille zu bekommen, empfiehlt sich zu Beginn des Aufenthalts der Besuch der Basilika Notre Dame de la Garde, genannt „La Bonne Mère“, die gute Mutter. Wer den steilen Aufstieg scheut, nimmt den Bus der Linie 60. Auf dem Kirchturm erhebt sich eine elf Meter große, vergoldete Marienfigur, die im Sonnenlicht erstrahlt. Die Kirche selbst ist im neuromanisch-byzantinischen Stil erbaut, und von Aussichtsplattformen auf unterschiedlichen Ebenen hat man einen unvergleichlichen Blick über die Stadt und den Hafen. Wer das angemessen genießen will, sollte spätestens um 17 Uhr hier oben sein, denn um 18 Uhr schließt das Areal, und das Sicherheitspersonal ist beim Rauswurf unerbittlich.
Dann ist aber der perfekte Zeitpunkt für einen Apéritif in der Naturweinbar „Grenadine“ (47 Rue d’Endoume, 7. Bezirk). Der Abstieg von der Basilika lässt sich so gestalten, dass man hier ohne Umweg vorbeikommt. Inhaberin Nominoé Guillebot hat als Sommelière in Paris und London gearbeitet, bevor sie das „Grenadine“ als Weinhandlung und Weinbar eröffnete. Das Konzept ist einfach: Die Naturweine lagern offen sichtbar in zwei verglasten, klimatisierten Räumen rechts neben dem Eingang. Im einen liegen bei 10 Grad die Weiß-, Orange- und Schaumweine, im anderem bei 14 Grad die Rotweine. Ein Glas gibt es ab sechs Euro, auf den Preis der Flasche kommt bei Verzehr im Lokal ein Korkgeld von zehn Euro. Die Gäste sitzen im kleinen Raum, der mit kleinen Tischen und Hockern aus den Fünfzigern sowie einer Bank möbliert ist. Bei schönem Wetter gibt es ein paar Sitzgelegenheiten im Eingangsbereich. Das Publikum kommt zum großen Teil aus der Nachbarschaft und reicht von Geschäftsleuten bis zu Familien. Zu den Naturweinen gibt es auch hausgemachte Kleinigkeiten zu essen.
Nominoé Guillebot arbeitet nur mit kleinen, engagierten Winzern zusammen, die sie persönlich kennt und die „mit Herz und Hand“ ihre Weine machen. Sie hat ein rigoroses Qualitätsverständnis und bezeichnet den falschen Umgang mit Wein bei Transport, Lagerung und Ausschank als „Misshandlung“. Im Sommer, erzählt sie, trinke man in Marseille lieber leichte Weißweine aus nördlicheren Regionen wie Elsass oder Loire. Die Rotweine hätten eher im Winter Konjunktur und kämen dann aus dem Lubéron oder aus Korsika. Die Weinregion reicht in Marseille also sogar bis über das Wasser.
Sépia
Vom „Grenadine“ sind es nur wenige hundert Meter zum Restaurant „Sépia“ (2 Rue Vauvenargues, 7. Bezirk), wobei der Weg allerdings wieder steil bergauf führt. Das „Sépia“ liegt im Jardin de la Colline Puget und bietet abends einen fantastischen Ausblick auf den Sonnenuntergang über dem Meer. Das Team von Patron Alban Le Cam empfängt die Gäste herzlich, und die Küche von Chef Xavier Zapata ist geschmackvoll und raffiniert. Sie verbindet Erde und Meer, „terre et mer“. Sommelier Anthony Audran hat eine ansehnliche Weinkarte zusammengestellt – eine „carte vivante“ (lebendige Karte), deren Positionen er nach Lust und Laune auswählt, wie er sagt. 95 Prozent der Weine kommen aus Frankreich, der Schwerpunkt liegt auf der Provence. Deren Weinvielfalt bringt er auf den Punkt: „In Marseille hat man die Wahl!“
Gern bietet Anthony Audran auf Anfrage eine Weinbegleitung zum Menü an: ein Glas zu jedem Gang mit einem passenden Tropfen nach Verfügbarkeit am betreffenden Tag. Das kann dann zum Beispiel so aussehen:
Seespinne mit Tourin (traditioneller Brotsuppe), Kichererbsen und Kurkuma-Aioli
2022 Les Mailles à l’endroit, AOP Anjou – Domaine Les Grandes Vignes, Loire:
ein reinsortiger Chenin Blanc mit feiner Holzwürze, Aromen von gerösteten Nüssen, Aprikosengratin, Grapefruit, weißem Pfirsich und Birne sowie animierender Säure und mineralischen Noten. Der schwebt Wein mit seiner Frische über dem Gericht und stützt es zugleich mit Schmelz und Würze.
Mit Rindfleisch gefüllter Tintenfisch mit Kirschtomaten, grünen Bohnen,
roten Zwiebeln und Tintensauce
2024 Lauze, Vin de France – Domaine de Sulauze, Provence:
eine Cuvée aus 80 % Grenache Noir, 15 % Syrah und 5 % Mourvèdre, die mit wenig Schwefel vinifiziert und leicht gekühlt serviert wird. Dann zeigt sich der Wein leicht und frisch mit Aromen von Beeren, Gewürzen und Tabak. Er ist nicht vielschichtig, aber ehrlich, und er spielt mit dem Gericht.
Paris-Brest (Brandteig-Ring) mit Praliné-Creme, Nuss-Mandel-Praline und Wildpfeffer-Sahne
2023 Bulleversant brut, Vin de France – Distillerie Cazottes, Sud-Ouest:
ein harmonischer Pét Nat aus Mauzac Blanc, der sich durch Noten von Birne, Apfel, Mirabelle und Quitte sowie eine lebhafte Perlage auszeichnet. Die Aromen der Praliné-Füllung und der gelben Früchte verschmelzen in unerwarteter Weise, und im Zusammenspiel stellt sich ein Hauch von Holunderblüten ein. Erkenntnis: Es muss zum Dessert nicht immer Süßwein sein!
Am Wochenende hat das „Sépia“ geschlossen. Direkt nebenan und unterhalb betreibt Alban Le Cam jedoch das „Julis“, dessen Konzept sich zwischen Tapas-, Cocktail- und Weinbar bewegt. Hier gibt es Geselligkeit à la marseillaise mit Ausblick über die Dächer der Stadt bis zum Meer. Das junge, engagierte Serviceteam ist sehr freundlich und serviert köstliche kleine Gerichte, begleitet zum Beispiel vom 2023 La Citadelle Les Haus Faits, einer provenzalischen Cuvée aus Clairette und Ugni Blanc von Myrko Tépus mit Substanz und Trinkfluss zugleich.
Le Panier und Les Lumières
An einem Vormittag bietet sich ein Spaziergang durch die Altstadt von Marseille an. Für dessen Beginn empfiehlt sich das Rathaus an der Nordseite des Vieux Port. Von hier blickt man direkt hinauf zur Basilika auf der gegenüberliegenden Seite des Hafenbeckens. Rechts am Rathaus vorbei führt die Rue de la Prison Richtung Hôtel Dieu; das heutige Hotel Intercontinental war früher ein Krankenhaus. Links befindet sich die Kirche Notre-Dame-des-Accoules, und rechts dahinter steigt die Montée des Accoules ins Viertel Le Panier empor. Dort kann man stundenlang umherschlendern und enge, alte Gassen sowie versteckte Plätze entdecken. Es gibt viel Graffiti, dazu Gastronomie und Geschäfte für lokale Produkte, Kunsthandwerk und Andenken.
Ihren Abschluss findet die Erkundungstour am besten an der Kathedrale Sainte-Marie-Majeure unterhalb der Altstadt. Vorbei am Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers (MuCEM) und der Festungsanlage Fort Saint-Jean führt der Weg am Hafenbecken entlang wieder zum Rathaus. Diesmal gehe man einige Schritte weiter und dann links in die Rue Bonneterie. Diese läuft geradewegs auf das „Les Lumières“ (43 Grand Rue, 2. Bezirk) zu, das Café, Weinbar und Restaurant zugleich ist. Hier herrscht eine lässige Atmosphäre, der Gastraum ist im Shabby Chic mit einfachen Holztischen und Stühlen eingerichtet, und es gibt noch einmal ähnlich viele Plätze auf der Terrasse vor dem Lokal. Das „Les Lumières“ hat durchgehend geöffnet und bietet offene Weine in allen Varianten (Weiß, Rosé, Orange, Rot, Prickelnd) sowie eine ordentliche Speisekarte.
Inseln, Pain à l’Ail und Rive Sud
Bei gutem Wetter lockt ein Schiffsausflug vom Vieux Port zu der Marseille im Westen vorgelagerten Inselgruppe Îles du Frioul. Die Inseln Pomègues, Ratonneau, Île d’If und Tiboulen laden zu maritimen Spaziergängen ein, auf der Île d’If kann man das ehemalige Gefängnis Château d’If besichtigen. So lässt sich spielend mindestens ein halber Tag gestalten.
Zurück am Hafen, sind es nur wenige Meter zu „Pain à l’Ail“ (5 Rue de la Tour, 1. Bezirk). Der Begriff Imbiss greift hier zu kurz – die Inhaber Linda und Hervé Vila Pallesa nennen ihr Konzept „Streetfood-Restaurant“: Es gibt Sandwiches oder Bols (Schalen) zum Mitnehmen oder zum Verzehr vor Ort, entweder im langgezogenen Gastraum oder im Gastgarten in der Fußgängerzone vor dem Lokal. Alle Produkte sind hausgemacht und lokal aus der Provence; das Brot stammt vom Bäcker ein paar Häuser weiter. Wie Hervé berichtet, bestellen 90 Prozent der Kunden den Klassiker „Aïoli“ mit Kabeljau, Gemüse und Knoblauchsauce nach dem Rezept von Lindas Familie, die einen spanisch-algerischen Hintergrund hat. Der zweite Klassiker des Hauses ist „Daube“ mit in Rotwein geschmortem Rindfleisch, Karotten, Tomaten und Kräutern. Als Drittes bieten Linda und Hervé jede Woche eine Spezialität an – in den Sommerferien ist das Bouillabaisse im Sandwich-Format!
Die Gäste bestellen am Tresen und hinterlassen ihren Namen, der aufgerufen wird, wenn das Essen zubereitet ist. Ein Großteil der Kundschaft kommt aus der Nachbarschaft, ergänzt um viele Touristen, die am Hafen unterwegs sind. Für knapp elf Euro bekommt man im „Pain à l’Ail“ ein sehr gutes, reichhaltiges und authentisches Mittagessen. Der Laden brummt, aber Linda und Hervé behalten auch im stärksten Geschäft die Übersicht und ihre gute Laune. Es gibt sogar Wein – und auch der ist aus der Region: In Weiß, Rosé und Rot kommen Tropfen der IGP Méditerranée ins Glas, die zu den Sandwiches bestens passen.
Wem danach der Sinn nach mehr Wein steht, geht schräg gegenüber in die Weinhandlung und Weinbar „Rive Sud Vins“ (10 Rue de la Tour, 1. Bezirk) von Myles Mayall, einem frankophilen Briten mit Weinbegeisterung und -erfahrung, der immer an seiner Mütze erkennbar ist. Myles hat eine große Auswahl an Weinen aus der Provence ebenso wie aus anderen Regionen und Ländern im Sortiment. In seinem geräumigen, freundlichen Laden mit Regalen, Tischen und Sitzgelegenheiten kann man Weine vor Ort trinken und dazu auch Kleinigkeiten essen. Dabei berät Myles fachkundig und charmant; interessant sind auch die Themenverkostungen, die er anbietet. Die Öffnungszeiten sind nicht ganz regelmäßig, werden aber an der Tür ausgehängt.
Cours Julien und Gérarh
Cours Julien ist das Künstlerviertel von Marseille. Von 1860 bis etwa 1970 befand sich hier der regionale Großmarkt für Obst und Gemüse. Daran erinnert heute unter anderem der Bauernmarkt, der jeden Mittwoch an der Métrostation Notre-Dame du Mont stattfindet. Alle Erzeuger und Produkte kommen aus Marseille oder der nahen Umgebung, die Atmosphäre ist nachbarschaftlich, und es gibt viel Bioqualität: Obst, Gemüse, Pilze, Brot, Fleisch, Fisch, Käse, Olivenöl, Sorbets…
Das Viertel liegt auf einem der Hügel der Stadt – viele Häuser haben abenteuerliche Keller in mehreren unterirdischen Etagen, in denen früher die Lebensmittel lagerten. Inzwischen ist der zentrale Platz an der Straße Cours Julien zu einer Begegnungszone umgestaltet worden. Auch im Quartier Cours Julien gibt es viel Graffiti, dazu Restaurants und Bars, Geschäfte und Theater; die Gastronomie hat mittags und abends geöffnet, und an den Abenden sorgen kulturelle und subkulturelle Events für reichlich Publikum im quirligen Viertel.
Koch Gérard Habib bezieht den größten Teil seiner Lebensmittel auf dem Bauernmarkt, der fast vor seiner Haustür liegt, und kennt alle Erzeuger persönlich. Sein Restaurant heißt „Gérarh“ (50 Cours Julien, 6. Bezirk). Gérard verwendet ausschließlich lokale und biologisch erzeugte Produkte für seine mediterrane Küche mit Fisch, Pilzen, Gemüse und Olivenöl. Die Bioweine, die er anbietet, stammen aus der Provence und nur von kleinen Weingütern, die er ebenfalls alle persönlich kennt; darunter sind viele Winzerinnen – etwa Julie Karsten, die im Dorf Castillon-du-Gard Naturweine produziert. Viele von Gérards Weinen tragen keine engere Herkunftsbezeichnung als Vin de France.
Gérard Habib ist in Togo geboren und in der Dordogne (dem Département, nicht dem Fluss) aufgewachsen. Dank eines lokalen Gastronomen, der ihn förderte, wurde er bereits mit noch nicht mal 19 Jahren Küchenchef und kam nach Stationen in Bordeaux, Savoyen und Berlin nach Marseille. „Zu allen meinen Stationen bin ich durch mein persönliches Netzwerk gekommen“, erzählt Gérard, der sich im Gespräch als sensibler, emphatischer und liebenswürdiger Mensch mit einem unbeirrbaren Wertesystem im Kulinarischen wie im Sozialen erweist. So engagiert er sich beispielsweise karitativ, indem er für mittellose und kranke Menschen kocht.
Auch im „Gérarh“ selbst gibt es Veranstaltungen. Darum kümmert sich Gérards Geschäftspartnerin Hélène Morisset, die ursprünglich Innenarchitektin war und jetzt leidenschaftliche Gastronomin und Event-Managerin ist. Das Angebot reicht von musikalischen Abenden bis zu Verkostungen und Seminaren, etwa „Du marché à l’assiette“ (Vom Markt auf den Teller), „Atelier accord mets et vins“ (Food-Pairing-Workshop) und „Huile d’olives“ (Olivenöl). Zur Wein- und Gastronomiekultur in Marseille hat Gérard eine klare Meinung, und die ist nicht eben die höchste: „Marseille ist eigentlich eine Bierstadt. Über 60 Prozent der Restaurants servieren nur Pizza und Kebap. Wir sind eine Stadt am Meer, aber wir haben trotzdem nur drei Geschäfte für Fisch und Meeresfrüchte und nur fünf Restaurants für Bouillabaisse“, gibt er zu bedenken und stellt klar: „Wer für mehr Weinbars sorgt, sind die Touristen!“
Miramar
Die Bouillabaisse ist die Spezialität von Marseille – ein Fischgericht mit Drachenkopf, Petersfisch, Meeraal sowie Knurrhahn, Seeteufel, Rotbarbe, Merlan, Seewolf und/oder Barsch. Sie soll ihren Ursprung im 16. Jahrhundert in Marseille haben: als Suppe aus Fischresten vom Markt, die in Meerwasser gekocht wurden. Der Name Bouillabaisse beinhaltet die Wortstämme von „bouillir“ (kochen) und „abaisser“ (senken, herabsetzen), weil der Topf, sobald die Suppe kocht, vom Herd genommen wird, um die Hitze zu reduzieren.
Eines der Marseiller Traditionsrestaurants für Bouillabaisse ist das „Miramar“ (12 Quai du Port, 2. Bezirk), das direkt am Vieux Port liegt. Diese Lage macht sich auch preislich bemerkbar. Der hochdekorierte Küchenchef Christian Buffa ist Gründungsmitglied der Bouillabaisse-Charta; seine vielfachen Auszeichnungen hängen prominent aus. Die „Charte de la Bouillabaisse“ schützt als Zusammenschluss lokaler Gastronomen seit 1980 die traditionelle Zubereitung und Qualität der Bouillabaisse, indem sie unter anderem die zu verwendenden Fische und das Servieren in zwei Gängen festlegt.
So trägt die Bouillabaisse im „Miramar“ zu Recht den Namen „La vraie Bouillabaisse de Marseille“ – die wahre. Sie wird, wie vorgeschrieben, in zwei Gängen dargeboten: Zuerst kommt eine schmackhafte Fischsuppe mit Knoblauch-Croûtons und Sauce Rouille auf den Tisch. Sauce Rouille besteht aus weichgelochten Kartoffeln, Fischfond, Knoblauch, Cayennepfeffer und Safran. Die Croûtons sind geröstete Weißbrotscheiben, über die der Gast selbst frischen Knoblauch reibt. Während die Gäste die Suppe genießen, richtet der Service einen zweiten Teller an: Insgesamt sechs Fische (jeweils mindestens ein ganzes Filet oder eine dicke Scheibe) sowie einige Muscheln werden wiederum in der Fischsuppe zusammen mit Kartoffeln aufgetragen. Dieses Gericht ist ausgesprochen reichhaltig und für eine Person kaum zu bewältigen. Die Qualität ist exzellent, und dafür kostet dieser Gang auch 80 Euro pro Person.
Die Preise im „Miramar“ bewegen sich generell auf sehr hohem Niveau. Die Weinkarte ist ein Buch und sehr gut sortiert: Die Weine sind übersichtlich nach Farbe, nach Region und nach Appellation geordnet. Die Provence ist hier gut vertreten, aber es gibt auch deutlich prätentiöse Positionen: Château Miraval, gereifte Spitzen-Bordeaux (für 2.000 bis 5.500 Euro die Flasche), und als „ausgetrunken“ sind ausgerechnet Dom Pérignon und Roederer Cristal markiert. Weine mit einem Flaschenpreis von unter 100 Euro sind rar gesät. Wer hier zu Gast ist, hat Geld und legt nicht nur Wert auf Genuss, sondern auch auf Status. Das Publikum ist fortgeschrittenen Alters und besteht überwiegend aus Touristen.
Das gastronomische Konzept im „Miramar“ entspricht der alten Schule mit klassischem Chef-Commis-System. Der Chef de rang bleibt in seiner Station, und der Demi-chef oder Commis sorgt für den Transport der Speisen und Getränke. An jeder Servicestation duftet ein Topf mit heißer Fischsuppe, warme Teller kommen aus dem Rechaud direkt darunter, und eine Person ist den ganzen Service über nur damit beschäftigt, Fische zu filetieren. Das Serviceteam und der Sommelier sind freundlich, aber wirkliche Herzlichkeit und Seele scheinen leider zu fehlen. Die Abläufe wirken zu routiniert, und dafür, dass so viele Personen die Gäste betreuen (sollen), lässt die Aufmerksamkeit selbst bei nicht vollem Restaurant bisweilen zu wünschen übrig.
Der weiße 2023 Fontimple Vacqueyras der Kooperative Rhonéa, den wir zur Bouillabaise ausgesucht hatten, passte allerdings ganz vortrefflich: Die Cuvée aus Viognier, Bourboulenc und Roussanne offenbarte Mango-, Birnen- und Pfirsichnoten, nussige und erdige Töne, dazu ein charakteristisches leichtes Bitter im Abgang sowie genug Aroma, Körper und Schmelz.
L’Abri
Ein ganz anderes gastronomisches Konzept und eine Kuriosität findet sich im „L’Abri“ (114 Boulevard de la Corderie, 7. Bezirk). Das Restaurant ist auch ein „chai urbain“, eine Weinkellerei in der Stadt. Also nicht nur Weinkultur, sondern sogar Weinproduktion in Marseille selbst? Wahrhaftig! Die Kellerei mit Edelstahltanks, Presse und Abfüllanlage ist im hinteren Teil des Restaurants durch eine Glastür zu sehen.
Früher war dieses Gebäude eine Seilerei. Franck Pasquier und Gauthier Idrac kauften es 2017 und etablierten hier zuerst die Weinkellerei; später kam ein Bistro mit einfacher Küche hinzu. Die biologisch angebauten Trauben stammen von zehn Hektar Weinbergen in der Gemeinde Eygalières in den Alpilles, etwa eine Dreiviertelstunde Autofahrt von Marseille entfernt. Hier werden acht Hektar rote Rebsorten (Cinsault, Grenache Noir, Syrah, Mourvèdre) und zwei Hektar weiße Sorten (Clairette, Bourboulenc, Grenache Blanc, Vermentino) kultiviert. Die Weine werden mit natürlichen Hefen produziert und im Edelstahl ausgebaut. Sie kommen ungefiltert und nur minimal geschwefelt auf die Flasche: ein Schaumwein, ein Weißwein und sechs Rotweine. Größtenteils tragen sie die Herkunftsbezeichnung Vin de France. Die Flaschen sind recyclebar, und die Etiketten gestaltet ein Freund von Franck.
Inzwischen ist das „L’Abri“ auch ein vollwertiges Restaurant. Die Gäste sitzen im modernen, gemütlichen Gastraum mit Tresen und offener Küche oder auf der Terrasse vor dem Lokal; der Verkehr an der Hauptstraße ist allerdings lebhaft und laut. Küchenchef Pierre Meynet bereitet Gerichte im Tapas-Stil zu, das professionelle Serviceteam um Restaurantleiterin Xuân Iam betreut die Gäste. Auf der Karte stehen neben den eigenen Weinen auch viele weitere regionale, oft Naturweine.
Ausflug nach Cassis
Wer etwas Zeit in Marseille verbringt und sich für die Weine der Umgebung interessiert, sollte auch einen Abstecher nach Cassis einplanen. Wie gesagt, liegt die kleine Hafenstadt mit eigener AOP knapp 20 Kilometer östlich der Metropole. Erreichbar ist sie sowohl mit dem Auto als auch mit dem Zug (wobei der Bahnhof ziemlich weit außerhalb des Ortes liegt).
Hier gibt es einige Sehenswürdigkeiten, beispielsweise das Rathaus aus dem 16. Jahrhundert, die Kirche Saint-Michel aus dem 19. Jahrhundert und das Fischereigericht La Prud’homie aus dem 18. Jahrhundert. Das Schloss oberhalb der Stadt, dessen Ursprünge auf das 14. Jahrhundert zurückgehen, kann leider nicht besichtigt werden, da es Privateigentum ist. Das Leben in Cassis spielt sich – wie in Marseille – hauptsächlich an der Hafenpromenade ab, an der auch der Leuchtturm des Ortes steht.
Um die lokalen Weine kennenzulernen, empfiehlt sich das „Divino“ (3 Rue Alexandre Rossat), das gleichzeitig Weinbar und Weinhandlung ist. Inhaber Philippe Bellac berät Kunden und Gäste als ehemaliger Sommelier ebenso freundlich wie fachkundig. Er führt Weine von allen zwölf Weingütern der AOP Cassis. Man sitzt im gemütlichen Ladenlokal oder – noch besser – vor dem Haus an Tischen und alten Fässern und kann sich glasweise durch die ganze Appellation probieren, während man dazu kleine Speisen nascht. So ist das „Divino“ perfekt für einen ausgedehnten Mittagsimbiss!
Danach laden die Calanques zu einer Entdeckungstour auf dem Wasser ein. Die Küste zwischen Cassis und Marseille besteht aus über 20 Meeresbuchten, die von bis zu 600 Meter hohen Kalksteinfelsen umgeben sind. Seit 2012 sind die Calanques ein Nationalpark und Naturschutzgebiet. Die Schiffsrundfahrten starten und enden am Hafen.
Weitere Empfehlungen in Marseille
Für einen weiteren vinophilen Aufenthalt in Marseille empfehlen sich die folgenden Weinhandlungen und Weinbars in der Stadt:
„Chicoulon“ (59 Rue Grignan, 6. Bezirk)
Édouard Mireur war lange bei einem namhaften Getränkegroßhändler in Paris für die Weinsparte verantwortlich und eröffnete vor neun Jahren in seiner Heimatstadt das „Chicoulon“. Der Name ist das provenzalische Wort für den letzten kleinen Schluck Wein nach gutem Essen – frei vielleicht am besten zu übersetzen mit „Absacker“. Édouards Großmutter prägte diesen Ausdruck, nach dem der Enkel dann seinen Weinladen benannte. Édouard hat nur Weine im Sortiment, die ihn selbst überzeugen und die ihm gefallen – es gibt keine Beschränkung oder Spezialisierung, der Schwerpunkt liegt aber ganz klar auf Frankreich. Mittags kann man dank der Kooperation mit einem Gastronomen aus der Nachbarschaft im überdachten Hof des Ladenlokals essen und dazu die Weine genießen.- „Mademoiselle Wine“ (146 Corniche Président John Fitzgerald Kennedy,
7. Bezirk)
Hinter der Weinhandlung „Mademoiselle Wine“ steckt Aurélia Gauthier, die unter anderem in Lyon und London im Weingeschäft tätig war. Das Haupthaus gründete sie vor zehn Jahren in Aix-en-Provence, den Laden in Marseille an der Küstenstraße gibt es seit drei Jahren. 98 Prozent des Sortiments kommen aus Frankreich, ausschließlich von Vignerons Indépendants. Der Schwerpunkt liegt auf Champagne und Bourgogne, im Angebot sind aber auch unkomplizierte Weine, die die Kunden zum Picknicken oder (Sonnen-)Baden mit in die nahegelegenen Buchten nehmen können.
„Cave Agostini“ (7 Avenue du Maréchal Foch, 4. Bezirk)- „Supercools“ (10 Cours Julien, 6. Bezirk)
- „Les Canons de Vauban“ (124 Boulevard Notre Dame, 6. Bezirk)
- „Figure“ (90 Boulevard Vauban, 6. Bezirk)
- „Voilà Vé“ (100 Boulevard Chave, 5. Bezirk
- „Les Rigoles“ (84 Boulevard Longchamp, 1. Bezirk)
- „Ivresse“ (76 Rue Léon Bourgeois, 1. Bezirk)
Diese Reise wurde teilweise finanziert von Provence-Alpes-Côte d’Azur Tourisme.


