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Zusammen mit David Ecobichon, der diese Reise organisiert hatte, war ich anlässlich der Primeur-Woche Anfang April drei Tage im Bordelais unterwegs. Für mich war es wahrhaftig der erste Besuch der Region – und er war nachhaltig, faszinierend und sehr genussreich!

Château Cavalier Côtes de Provence 2014Insgesamt absolvierten wir 15 Stationen, die uns sowohl ans rechte als auch ans linke Ufer führten, und das Programm erstreckte sich zeitlich von Dienstag Mittag bis Donnerstag Nachmittag. Es begann mit einem köstlichen Mittagessen in der Brasserie St. Once im Stadion von Bordeaux, wo wir bei schönsten Frühlingswetter in der Sonne saßen. Der Wein dazu stimmte uns bereits auf den ersten offiziellen Termin dieses Tages ein: Der Château Cavalier Côtes de Provence 2014 (sage noch jemand, Rosé könne nicht reifen, zumal in der halben Flasche) kommt aus dem Hause Castel.

Familiensache: Groupe Castel

Groupe Castel ist Frankreichs größter Weinproduzent und gleichwohl ein reines Familienunternehmen. Sowohl in Europa als auch weltweit steht Castel bei der Vermarktung französischer Weine an erster Stelle. Die Firma wurde 1949 von neun Geschwistern gegründet – darunter Pierre Castel, der heutige Président Fondateur – und vereint inzwischen drei Generationen. Der Weinumsatz lag 2014 bei rund 1,1 Milliarden Euro (Tendenz steigend), die Jahresproduktion beläuft sich auf etwa 640 Millionen Flaschen; insgesamt beschäftigt die Unternehmensgruppe über 2.500 Mitarbeiter.

Als Weinerzeuger und -händler bietet Groupe Castel Weine aus vier der größten französischen Regionen an: Bordeaux, Provence, Loire und Languedoc. Das Unternehmen bewirtschaftet in Frankreich 1.400 Hektar Rebfläche in naturnahem Anbau (zu 70 Prozent zertifiziert von der Vereinigung Terra Vitis) und unterhält landesweit zehn komplette Produktionszentren sowie 13 Abfüll- und Logistikzentren. Von den 26 Auslandsniederlassungen in vier Kontinenten befinden sich 15 in Afrika – der Export französischer Weine in afrikanische Länder war der ursprüngliche Geschäftszweck der Firma. In Marokko, Tunesien und Äthiopien sowie in China bewirtschaftet Castel weitere 1.900 Hektar Rebfläche; darüber hinaus ist das Unternehmen im Bier- und Limonadengeschäft aktiv. Die Weine von Castel werden in mehr als 140 Ländern weltweit verkauft.

Ortstermin in Blanquefort

Barrique-Lager von Castel in BlanquefortIn der Firmenzentrale von Groupe Castel in Blanquefort (einem Vorort von Bordeaux) nahm sich Kommunikationsdirektor Franck Crouzet drei Stunden Zeit für uns. Zuerst führte uns ein Kollege von ihm aus dem Bereich Qualitätssicherung durch eine der riesigen Hallen auf dem rund zwölf Hektar großen Gelände. Hier befinden sich unter anderem zwei Kellereien (eine für die Weinanlieferung und eine für die Abfüllung), ein Labor, mehrere Lagereinheiten sowie insgesamt 14 Abfüllanlagen für Glasflaschen, Kunststoffflaschen und Bag-in-Box-Verpackungen. Wir verfolgten den gesamten Prozess von der Anlieferung neuer Flaschen über deren Reinigung, Füllung, Verschluss und Etikettierung bis zur Verpackung in Kartons und Stapelung auf Paletten, wobei die Menge und die Geschwindigkeit der Produktion mich schwer beeindruckten: Pro Tag können in Blanquefort eine halbe Million Flaschen gefüllt werden, das bedeutet bis zu sechs Flaschen pro Sekunde. Auch die PET-Flaschen- und die BiB-Abfüllung sahen wir uns an und warfen ebenso einen Blick „auf die andere Seite“: in die Kellerei, von wo die Weine über ein komplexes Leitungssystem aus Edelstahltanks in die Abfüllanlagen gelangen. 

Danach besichtigten wir das Barrique-Lager – einen modernen Bau am Rand des Firmengeländes, in dem bis zu 60.000 Fässer Platz haben; derzeit lagern dort rund 40.000 Barriques in sechs Lagen übereinander. Die Temperatur wird maßgeblich durch die Stärke der Wände und der Decke stabil gehalten, das Dach ist bepflanzt, um die Sonnenwärme zu absorbieren, und im Inneren des Gebäudes sorgt ein ausgeklügeltes Luftbefeuchtungssystem für optimales Raumklima. Die Fässer sind ausnahmslos aus amerikanischer Eiche gefertigt, wie Franck erläuterte. Das Holz sei ideal für die Weine, die hier lagern: Rotweine, die zum Konsum innerhalb von zwei Jahren gedacht sind.

Über Marken, Herkunft und Weinstile

Castel-Firmenschild im KellerBevor wir schließlich einige Weine probierten, klärte Franck mich über die Struktur und die Ziele von Castel auf. Die Firma sei in drei Funktionen am Markt aktiv: Sie baue selbst Trauben an und erzeuge daraus Wein („vigneron“), sie kaufe Most und Trauben zu und verarbeite diese zu Wein („négociant“), und sie verkaufe sowohl selbst erzeugten als auch von anderen Produzenten hergestellten Wein („caviste“). Damit habe Castel „die Kompetenz von der Rebe bis zum Konsumenten“ und könne „maßgeschneiderte Weine und Ausstattungen für Kunden in aller Welt“ anbieten. Ziel sei es, eine möglichst große Menge qualitativ einwandfreier Weine für möglichst viele Menschen zur Verfügung zu stellen bzw. – umgekehrt formuliert – möglichst viele Menschen an der großen Vielfalt der Weine teilhaben zu lassen, und das in einwandfreier Qualität. 

Groupe Castel stützt sich dafür auf zwei wesentliche Marken bzw. Unternehmensbereiche: zum einen „Châteaux & Domaines Castel“ und „Castel Grands Crus" sowie zum anderen „Maison Castel“. „Châteaux & Domaines Castel“ und „Castel Grands Crus" umfassen 19 französische Weingüter, die im Besitz des Unternehmers sind, davon allein 14 im Bordelais; zusätzlich hält Castel jeweils die Hälfte der Anteile an den Bordeaux-Châteaus Beaumont und Beychevelle. „Maison Castel“ ist seit 2016 (darüber habe ich bereits im vergangenen Jahr berichtet) die Marke für das internationale Geschäft; sie umfasst Rebsortenweine, Weine mit geschützter Ursprungsbezeichnung (AOP) und Schaumweine. Maison Castel sei insofern, erklärte Franck, ein „Botschafter der französischen Kultur und Lebensart“, namentlich der Weinkultur, denn die Marke könne „die französischen Weine in ihrer ganzen Vielfalt“ präsentieren. Mit der Herkunft Frankreich („origine de France“) assoziierten die ausländischen Konsumenten – was Franck an den Beispielen Großbritannien und China festmachte – Werte wie Tradition, Verlässlichkeit und Vertrauen. Die wichtigsten Exportmärkte für Castel seien 2015 die Niederlande, Russland und China gewesen; Deutschland rangiere immerhin unter den ersten zehn. 

Über Vielfalt, Typen und Transparenz

Castel-Firmenlogo am GebäudeFrankreich könne, so Franck, „die gesamte Vielfalt der Geschmäcker und Kundenvorlieben abdecken“. Bei „Maison Castel“ gehe es darum, einen Weinstil, der dem Konsumenten gefällt, mit der Typizität der Region, aus der der Wein kommt, zu verbinden. Der Typ des Weins bestimme den Typ des Weinmarkts, der wiederum vom Typen des Konsumenten geprägt sei. Drei Verbrauchertypen habe Castel zusammen mit dem Marktforschungs- und Beratungsinstitut Wine Intelligence ermittelt: die „Mainstream-Kunden“, die „jungen Entdecker“ und die „Kenner“. Castel gebe seinen Kunden das Versprechen, dass das Produkt unter den besten Bedingungen hergestellt worden sei. Vier Trends für die nächste Zukunft nannte Franck: erstens Rebsortenweine aus dem Languedoc, zweitens Roséweine, drittens Schaumweine sowie viertens Weine mit geringem Alkoholgehalt. Die Technik, um den Alkoholgehalt eines Weins zu reduzieren, existiere bereits seit vielen Jahren, und dieses Vorgehen sei Castels Antwort auf den Klimawandel, der durch die Erderwärmung den Zuckergehalt in den Trauben und damit den Alkoholgehalt im Wein steigen lässt. „Wir wollen den Alkoholgehalt verringern, ohne die Stilistik des Weins zu verändern“, formulierte Franck.

Zwei zentrale Begriffe tauchten in den Gesprächen mit ihm und seinen Kollegen immer wieder auf: „accessibilité“ (Zugänglichkeit, Offenheit) und „traçabilité“ (Rückverfolgbarkeit). Es geht also um Transparenz. Alle Weine von Castel lassen sich von der einzelnen Flasche über alle Stufen des Produktionsprozesses bis zu der Weinbergsparzelle zurückverfolgen, aus der die Trauben stammen (Stichwort: Lebensmittelsicherheit). Die Transparenz zeigt sich aber beispielsweise auch darin, dass alle Mitarbeiter die Bezeichnung der Abteilung, der sie angehören, auf dem Rücken ihrer Dienstkleidung tragen (Produktion, Qualitätssicherung, Labor, Logistik, Instandhaltung) und damit sofort in ihrer Funktion identifizierbar sind.

Schaumwein im Fokus

Vier Rebsortenweine von Maison CastelZusammen mit einer Önologin des Hauses verkosteten wir dann fünf Weine, die sehr gut repräsentierten, wofür „Maison Castel“ steht – Vielfalt, Typizität und Integrität:

Der Crémant de Bordeaux war eine exklusive Vorpremiere, denn er wird nach 18 Monaten Hefelager erst im Herbst dieses Jahres auf den Markt kommen; die Trauben der Cuvée aus Sémillon und Cabernet Franc stammen aus dem Jahrgang 2015. Der Crémant – dosiert mit zehn Gramm Restzucker pro Liter – ist das Herzstück der Schaumwein-Strategie von Castel, die Franck Crouzet zuvor angesprochen hatte.

Schaubild im Keller von OenoallianceUm dem vorzugreifen: Zwei Tage später wohnten wir der offiziellen Eröffnung des neuen Schaumwein-Produktionszentrums der Castel-Tochter Oenoalliance in Beychac-et-Cailleau (gut 25 Kilometer von Blanquefort entfernt) bei. Das Unternehmen hat hier nach eigenen Angaben 1,5 Millionen Euro investiert, um im Laufe der nächsten Jahre die Marktführerschaft bei Crémant de Bordeaux zu übernehmen. Die Kellerei des neuen Zentrums ist speziell auf Crémant-Basisweine ausgelegt, und der Schaumwein wird mit Gyropaletten – computergesteuerten, maschinell betriebenen Rüttelgestellen – im traditionellen Flaschengärverfahren hergestellt. Die insgesamt vier Abfüllanlagen haben eine Kapazität von 2.000 bis 14.000 Flaschen pro Stunde, so dass jährlich so bis zu 40 Millionen Flaschen erzeugt werden können. Während Francks Kollegin France Delmond uns durch die Produktions- und Lagerhallen führte, kamen auch hier wieder die Stichwörter Zugänglichkeit und Nachvollziehbarkeit auf – einerseits, weil France sie erwähnte, und andererseits, weil an jeder Produktionsstation (Gyropaletten, Degorgieranlage etc.) große Schaubilder den jeweiligen Herstellungsschritt erklärten und in den Gesamtprozess einordneten. Diese Tafeln wurden zwar, wie France darlegte, extra für die Eröffnungsfeier und den Rundgang der Ehrengäste angefertigt und angebracht, werden jedoch dauerhaft hängen bleiben, um jedem Besucher jederzeit Information und Orientierung zu bieten.

Begegnungen am rechten Ufer

Blick auf die Landschaft von Saint-Émilion vom Weingut Tertre RotebœufZurück zum ersten Tag meines Bordeaux-Aufenthalts: Nach dem Besuch bei Groupe Castel ging es ans rechte Ufer der Dordogne in die zauberhafte Landschaft von Saint-Émilion und seiner Satelliten-Appellationen. Die sanften Hügel bieten ein sehr abwechslungsreiches und kleinteiliges Bild: Rebfelder mit durchschnittlich 40 bis 60 Jahre alten Rebstöcken in Guyot-Erziehung, dick, knorrig und sehr niedrig, kaum einen halben Meter hoch, dazwischen Wiesen, Bäume und Waldstücke, Teiche und kleine Seen, Dörfer, Schlösser, Höfe und Burgruinen, fast alle Häusern in warmen Sandsteinfarben. Weingut reiht sich an Weingut.

Wir fuhren zu Tertre-Rotebœuf, wo uns der äußerst liebenswürdige, ebenso distinguierte wie humorvolle Hausherr François Mitjavile empfing. Im Keller probierten wir neben den Primeurs den kraftvollen, hochfeinen Tertre-Rotebœuf 2015, der buchstäblich minutenlang im Mund blieb. Hier trafen wir auch Jan Thienpont vom gleichnamigen Weinhaus, der uns für den Abend zu sich eingeladen hatte.

Château Clos Fontaine 2009 und Tertre Rotebœuf 1998Insgesamt waren wir anschließend auf dem Anwesen der Thienponts zu zehnt: neben Jan, seinem Bruder Florian und dessen Frau Laura sowie David und mir drei Kollegen von einem namhaften süddeutschen Weinhändler und zwei junge Französinnen. Den Auftakt machte eine kleine Verkostung von einem guten Dutzend Weine des neuen Jahrgangs aus unterschiedlichen Appellationen; mein Favorit war dabei der Château Labégorce 2016 (Margaux). Danach bat Familie Thienpont zu Tisch: mit Austern und Foie gras, Rindfleisch vom offenen Feuer mit Gratin Dauphinois und Salat, Käse-Assortiment und Walnuss-Karamell-Torte – ebenso reichhaltig wie schmackhaft. Dazu gab es einige gereifte Weine wie den eleganten, nachhaltigen Château Clos Fontaine 2009 (Francs Côtes de Bordeaux) – mein Favorit –, den kühlen, dichten Tertre Rotebœuf 1998 (Saint-Émilion Grand Cru) und den würzigen, charaktervollen Château Biac 2011 (Cadillac Côtes de Bordeaux); auch ein exzellenter Calvados durfte zum Schluss nicht fehlen. Das war ein fulminanter Abschluss des ersten Tages, der gleich einige Schätze der Region offenbarte. Danke, Familie Thienpont!

Saint-Émilion und Pomerol

Primeur-Verkostung auf Château La CouspaudeDie mehr als 130 Mitglieder der Union des Grands Crus de Bordeaux präsentieren sich pro Appellation jeweils auf einem der Châteaus, die Gastgeber wechseln jährlich. Dort schenken die Weingüter an Tischen dann jeweils ihren neuen Jahrgang (also einen einzigen Wein) aus, in der Mitte des Raumes stehen Spuckbehältnisse bereit, und auch die Registrierung der Gäste und die Glaslogistik sind hochprofessionell und effizient organisiert. Die Verkostung erfolgt konzentriert, meist schweigend, man macht sich Notizen und spricht allenfalls mit Kollegen oder Bekannten, weniger mit den Winzern. Und ja, man kann morgens um halb zehn schon mit der Rotwein-Degustation beginnen, auch wenn die Weine sehr jung und dementsprechend noch etwas unruhig und tanninbetont sind. Nach ausgiebigem Riechen reichte mir zweimaliges Schmecken, um mir ein Urteil zu bilden, und nachdem ich so eine Vorauswahl getroffen hatte, probierte ich meine favorisierten Gewächse noch einmal, um mir ausführliche Notizen zu machen.

Auf Château La Couspaude präsentierten sich die Grands Crus aus Saint-Émilion, und zwei Weine stachen für mich als „coups de cœur“ heraus:

Meine weitere Favoriten waren (in der Verkostungsreihenfolge) Château Villemaurine, Château Soutard, Château La Tour Figeac, Clos Fourtet, Château La Couspaude, Château Canon La Gaffelière und Château Cap de Mourlin.

Château Haut-Maillet 2016 und Château Ferrand 2016Auf Château La Pointe präsentierten sich die Grands Crus aus Pomerol, und auch hier hatte ich zwei „coups de cœur“:

Weitere Favoriten waren (wiederum in der Verkostungsreihenfolge) Château La Pointe, Château Petit-Village, Château Gazin, Château La Cabanne und Château Beauregard.

Später am Tag verkosteten wir beim Syndicat Viticole de Pomerol weitere Weine des Gebiets in einer willkürlichen Auswahl. Meine „coups de cœur“ hier waren Château Haut-Maillet (straff, saftig) und Château Ferrand (saftig, vollmundig, Zug), meine weiteren Favoriten Château Grand Beauséjour, Château La Croix, La Clémence, Château Lafleur-Grangeneuve und Château Monregard La Croix.

Im Universum von Château Montlabert

Fünf Bordeaux-Primeurs von Castel-WeingüternChâteau Montlabert ist eins der 14 Bordeaux-Weingüter, die zu Groupe Castel gehören. Jean-Baptiste Prot, Entwicklungsdirektor von Châteaux & Grands Crus Castel, stellte uns die Primeurs von fünf unternehmenseigenen Gütern vor:

Danach verkosteten wir zwölf weitere Primeurs von Châteaus, die Castel ebenfalls vertreibt. Überragend war dabei Château Les Carmes Haut-Brion (Pessac-Léognan Grand Cru), gefolgt von Château Beychevelle (Saint-Julien Grand Cru) sowie Château Malartic Lagravière (Pessac-Léognan Grand Cru) und Clos Manou (Médoc).

Crash-Kurs im Weingarten

Nach der Probe nahm uns Ludovic Hérault, Betriebsleiter von Château Montlabert, unter seine Fittiche und ging mit uns zunächst in den Weingarten und anschließend in den Keller – beides ebenerdig und unmittelbar neben dem Schloss. Er machte mit uns einen Parforce-Ritt durch die Grundlagen des naturnahe Weinbaus und erläuterte „am lebenden Objekt“ (dem Rebstock selbst) die Vorteile der doppelten Guyot-Erziehung, bei der pro Pflanze nur jeweils zwei Ruten mit wenigen Augen stehen gelassen werden: Dieser Rebschnitt dient zum einen der Ertragsbegrenzung sowie zum anderen der besseren Durchlüftung der Trauben (um Pilzkrankheiten vorzubeugen) und der besseren Sonneneinstrahlung. Die Blätter bilden bei der Guyot-Erziehung ein Dach über den Trauben, was diese einerseits vor Sonnenbrand schützt und andererseits gleichzeitig die Photosynthese maximiert, durch die in den Beeren der Zucker gebildet wird. Zwischen den Rebzeilen wachsen bei Château Montlabert Blumen und Getreide, die den Boden auflockern und so für ein funktionierendes Ökosystem im Weingarten sorgen.

Weingarten von Château MontlabertLudovic erklärte auch noch einmal prägnant den Sinn der Ertragsbegrenzung: Die Rebe pflanzt sich eigentlich über die Trauben fort. Wenn die Beeren reif sind, fallen sie vom Stock, und aus den Kernen können sich dann neue Pflanzen bilden. Von Natur aus versucht der Rebstock, sein Überleben zu sichern, indem er möglichst viele Trauben ausbildet. Wenn man das durch entsprechenden Rebschnitt verhindert, so dass der Stock nur wenige Trauben hervorbringen kann, versucht er, die verbleibenden Beeren durch Konzentration der Inhaltsstoffe möglichst robust und widerstandsfähig zu machen, um zu überleben. Das kommt hinterher der Qualität des Weins zugute.

Château Montlabert bewirtschaftet 18 Parzellen, die alle optimal nach dem Lauf der Sonne ausgerichtet sind. Alle Rebflächen liegen rund um das Anwesen verteilt, so dass die Transportwege kurz sind und die Weine eine besonders große Herkunftsidentität besitzen. Jede Parzelle wird Ludovic zufolge einzeln ausgebaut, und das schauten wir uns im Weinkeller selbst an. Für die Barriques arbeite man, so Ludovic, derzeit mit vier Fassmachern zusammen; seit 2009 habe man insgesamt 13 ausprobiert. Zum Abschluss der Führung probierten wir den Château Montlabert 2016 aus drei verschiedenen Fässern, um die Unterschiede mit eigener Nase und Zunge wahrzunehmen.

Noch mehr Impressionen

Menükarte zum Mittagessen auf Château MontlabertAnschließend waren wir zum Mittagessen im Schloss geladen. Zu einem delikaten Vier-Gänge-Menü wurden auch reifere Gewächse aus dem Hause Castel serviert; mein Favorit war dabei der Château de Haut Coulon 2012 (Cadillac Côtes de Bordeaux).

Danach ging es mit dem Verkosten gleich weiter, denn der Grand Cercle des Vins de Bordeaux bot auf Château Montlabert zusätzlich über 150 Primeurs aus sämtlichen Appellationen zur Degustation an. Ich probierte angesichts der Zeitknappheit in willkürlicher Auswahl lediglich ein Dutzend Weine vom rechten Ufer; meine Favoriten: Château Beau Soleil (Pomerol), Clos du Clocher (Pomerol), Château Vray Croix de Gay (Pomerol), Clos Dubreuil (Saint-Émilion Grand Cru), Château L’Hermitage Lescours (Saint-Émilion Grand Cru), Clos La Madeleine (Saint-Émilion Grand Cru) und Château Yon-Figeac (Saint-Émilion Grand Cru).

Nische mit Charme: Francs Côtes de Bordeaux

Château Moulin de Gueyraude 2016 – Flasche und InformationsblattDie Empfehlung von Jan Thienpont führte uns auf Château Soutard, wo das Syndicat Viticole Francs Côtes de Bordeaux seine Weine vorstellte. Die Appellation Francs Côtes de Bordeaux liegt etwa 50 Kilometer nordöstlich von Saint-Émilion und ist mit rund 500 Hektar Rebfläche die zweitkleinste der AOPs Côtes de Bordeaux. Die Weinberge verteilen sich auf die drei Gemeinden Francs, Tayac und Saint-Cibard. Von den insgesamt gut 40 Weingütern präsentierten 14 ihre Primeurs in freier Verkostung, was indessen sehr liebevoll und persönlich gemacht war: Die Weine standen auf einem runden Tisch, und vor jeder Flasche lag ein ausführliches Informationsblatt. Auf einem zweiten Tisch nebenan waren 16 weitere Weine der derzeit verfügbaren Jahrgänge zur Probe bereitgestellt. Zwei engagierte, freundliche Winzer betreuten den Saal, hießen die Besucher willkommen und beantworteten allfällige Fragen.

Das Weingut, das mich hier am meisten überzeugte, war Château Moulin de Gueyraude. Der 2016er zeigte sich weich, saftig, geschliffen und ruhig, der 2012er war feinsaftig, samtig, balanciert und animierend – meine beiden „coups de cœur“. Von den Primeurs waren meine weiteren Favoriten Château Cru Godard (Kraft, Frucht, Würze), Château de Francs mit dem L’Infini (kühl, feingliedrig, frisch), Château Laulan (Kraft, Griff), Château Franc Cardinal (Tabakwürze, abgeklärt), Château Terrasson (fein schokoladig, saftig), Château Marsau (saftig, vollfruchtig), Château Puyguéraud (Kräuterwürze, Kraft, Balance) und Château Tifayne mit dem Lalande (saftig, rund). Meine Favoriten unter den aktuell erhältlichen Weinen waren teilweise dieselben: Château Tifayne Lalande 2011 (saftig, Griff), Château Marsau 2011 (mürbe, fein gereift), Château Nardou 2014 (saftig, fest, kühl), Château Puy-Garland 2014 (rund, geschliffene Frucht, saftig) und Château Laulan Quintessence 2014 (feinfruchtig, zarte Holzwürze, harmonisch).

Legenden: Château Cheval Blanc und Château d’Yquem

Château Quinault l’Enclos 2016, Le Petit Cheval 2016 und Château Cheval Blanc 2016Der Höhepunkt dieses zweiten Reisetages war zweifellos der Besuch auf Château Cheval Blanc – möglich nur mit Voranmeldung. Zur vereinbarten Zeit wurden wir von einem Mitarbeiter des Weinguts an der Rezeption abgeholt und an einen von insgesamt zwölf Stehtischen im modernen, ebenerdigen Weinkeller vor der Kulisse imposanter Betontanks geführt. An diesen Tischen fanden laufend – etwa im Viertelstunden-Abstand – die betreuten Verkostungen statt. Mit entsprechenden erklärenden Worten wurden die drei Primeurs des Hauses eingeschenkt, und es bestätigte sich, das Cheval Blanc zu den besten Weingütern am rechten Ufer zählt:

Auf Château Cheval Blanc präsentierte auch Château d’Yquem (Sauternes Premier Grand Cru Classé Supérieur) seinen Primeur – und das war ein beinahe überwältigendes sinnliches Erlebnis: kandierte Aprikosen, Ananas, Kräuter, etwas Zedernholz, tief, seidig weich, feinsaftig, kandierte Orangen, feinwürzig, opulent und gleichzeitig sehr finessenreich und differenziert, lang; bleibt wie ein Schleier aus Glück mehrere Minuten im ganzen Mund 

Glanzlichter auf Château Angélus

Nach einem Tag fast ausschließlich voller Rotwein war ich dankbar, dass es auf Château Angélus auch Weißweine in nennenswerter Zahl zu probieren gab, unter anderem von Clos Chaumont (Cadillac Côtes de Bordeaux), Château des Mille Anges (Cadillac Côtes de Bordeaux), Château de Chantegrive (Graves), Château Puy Redon (Atlantique) und vom libanesischen Weingut Ixsir. Das war sensorisch eine Wohltat, und die Weine waren durchweg sehr gut – wohl nicht zuletzt deshalb, weil die Weingüter, die hier ihre Gewächse präsentierten, entweder zum Besitz der Angélus-Inhaberfamilie de Boüard gehören oder von Hubert de Boüard önologisch beraten werden.

Sélection Pierrick Lavau 2016 von Château Tour PeyronneauAuf Château Angélus trafen wir auch Maxime Hérault, Kellermeister von Château Montlabert und Bruder von Betriebsleiter Ludovic. Nachdem er uns ebenso charmant wie sachkundig durch die Weißweine gelotst hatte, hatte er – vor den großen Weinen des gastgebenden Hauses – auch noch ein paar Rotwein-Empfehlungen parat. Eine besondere war der Sélection Pierrick Lavau 2016 von Château Tour Peyronneau (Saint-Émilion Grand Cru): ein reinsortiger Cabernet Franc von 80 Jahre alten Reben – dicht, kompakt, dunkle Beeren, saftig, erdig, mineralisch, fest, lang.

Zum Abschluss des Tages verkosteten wir die Primeurs der Weingüter der Familie de Boüard, die sich sämtlich durch Tiefe, Dichte und Festigkeit auszeichneten: nach Dame de Boüard, Clos de Boüard, Le Plus von La Fleur de Boüard und Carillon d’Angélus schließlich den legendären Château Angélus (Saint-Émilion Premier Grand Cru Classé A) – dicht, fein, Griff, kühle, geschliffene Frucht, dunkle Beeren, mineralisch, vielschichtige Würze, viel Zug, lang.

Pauillac und Saint-Estèphe

Primeur-Verkostung auf Château BatailleyAm dritten Tag wechselten wir die Flussseite, und die Landschaft am linken Ufer der Garonne unterscheidet sich deutlich von der am rechten Ufer. Das Gelände ist ebener, und die Rebflächen sind viel weitläufiger. Zwischen den ausgedehnten Rebfeldern erscheinen imposante Anwesen und prachtvolle Schlösser, doch das Bild ist insgesamt einheitlicher.

Auf Château Batailley präsentierten sich die Grands Crus aus Pauillac und Saint-Estèphe, und auch hier hatte ich wiederum zwei „coups de cœur“: Château Ormes de Pez (Saint-Estèphe) und Château Lynch-Bages (Pauillac). Favoriten waren weiterhin (in der Verkostungsreihenfolge) Château Lafon-Rochet (Saint-Estèphe), Château Pichon Baron (Pauillac), Château Lynch-Moussas (Pauillac), Château Croizet-Bages (Pauillac), Château Clerc Milon (Pauillac) und Château Batailley (Pauillac).

Eine Klasse für sich: Château Palmer

Noch am Vormittag folgte der Höhepunkt des Tages und – neben Château d’Yquem – der gesamten Reise: Wir hatten einen Termin auf Château Palmer, wo uns Jean-Louis Carbonnier empfing, der (eigentlich) das Amerika-Geschäft verantwortet. Mit ihm verkosteten wir die beiden Primeurs des Hauses, und der Erstwein war der beste rote 2016er, den ich an diesen drei Tagen erleben durfte:

Die Probe fand an einem von zwei großen Stehtischen im Weinkeller statt, die dadurch, dass sie an den beiden entgegengesetzten Enden des langen Raums standen und durch etliche Fassreihen getrennt waren, größtmögliche Diskretion boten, wenngleich sie jeweils Platz für bis zu zehn Personen boten. Jean-Louis führte uns noch kurz durch den blitzsauberen Produktionsbereich des Weinguts, das wo immer möglich mit Schwerkraft statt Pumpen arbeitet, um den Wein zu schonen; schließlich bewirtschaftet Château Palmer seine 65 Hektar Weinberge biodynamisch – eine Seltenheit im Bordelais. Für jeden Jahrgang gibt es einen eigenen Barrique-Keller. 

Vin Blanc de Palmer 2013Dann gesellte sich Palmer-Generaldirektor Thomas Duroux zu uns, und gemeinsam mit ihm gingen wir zum Mittagessen ins pfiffige Restaurant La Gare Gourmande in Labarde. Thomas – ein sympathischer, verbindlicher Mann klarer Worte, angenehm unprätentiös im Umgang und kompromisslos in der Sache – nahm zur Begleitung zwei Weine aus „seinem“ Keller mit, die man als normal Sterblicher kaum kosten, geschweige denn zu einer Mahlzeit genießen kann:

Alter Ego 2012Während des Essens sprachen wir zum einen über den Markt. Thomas berichtete, die Hauptabsatzländer für Château Palmer seien Großbritannien, Frankreich und die Schweiz; zunehmend wichtig seien darüber hinaus die USA, China und – Thailand, wo die Nachfrage durch reiche Australier und Russen generiert werde, die dort im Urlaub große Weine trinken wollten. Zum anderen gab Thomas Einblicke in einige Themen, mit denen sich Château Palmer beim Weinan- und -ausbau beschäftigt: Man versuche, den Schwefelgehalt im Wein so gering wie möglich zu halten. Durch den biodynamischen Anbau enthielten bereits die Trauben wenig Schwefel, und der Zusatz von Schwefel solle im Produktionsprozess möglichst spät und in möglichst niedriger Dosis erfolgen. Wie viel Schwefel der Wein aufnehme, hänge maßgeblich von den Hefen ab, die bei der Gärung zum Einsatz kämen, so dass man seit mehreren Jahren das Zusammenspiel zwischen Hefen und Schwefel erforsche und auf diesem Gebiet permanent experimentiere. Ziel sei es, eigene Hefen zu entwickeln, die ein für die Weine optimales Schwefelmanagement ermöglichten. Spannende mikrobiologische und biochemische Einsichten. Die Begegnung mit den Weinen und Menschen von Château Palmer war für mich nichts weniger als eine Sternstunde.

Sauternes und Barsac

Was sollte danach noch kommen? Süßweine! Den Abschluss unserer Reise bildeten die Grands Crus aus Sauternes und Barsac, die sich auf Château La Lagune präsentierten. Hier machte ich mir zu allen 22 vorgestellten Primeurs mehr oder weniger ausführliche Notizen, die ich an dieser Stelle auch wiedergeben will, wie üblich unter Angabe meiner „coups de cœur“ und Favoriten:

Fazit

Zusammenfassend kann ich nach dieser Reise ins Bordelais sechs Punkte festhalten:

  1. Bordeaux ist ein eigener Kosmos, bezogen auf den Wein. Und wer hierher fährt, erlebt überdies eine reizvolle Landschaft und freundliche Menschen.

  2. Bordeaux-Flaschen, Brot und Oliven stehen auf einem Tisch zur Probe bereitObwohl in der Primeur-Woche Tausende von Besuchern die Gegend bevölkern, ist die Stimmung allgemein entspannt (was sicher auch der guten Organisation zu verdanken ist). Überall herrscht – jedenfalls gefühlt – weniger geschäftstüchtige Betriebsamkeit als vielmehr Neugier, Entdeckungslust und gespannte, freudige Erwartung des neuen Jahrgangs.

  3. 2016 wird ein sehr guter Bordeaux-Jahrgang.

  4. Sauvignon Gris ist erheblich unterschätzt.

  5. Man darf sich in naher Zukunft auf mehr Crémant de Bordeaux freuen – auch dieser ist reichlich unterschätzt.

  6. Große Weine zeichnen sich vor allem durch drei Dimensionen aus: Feinheit, Komplexität und Länge. Sie bestehen aus vielen verschiedenen Komponenten, die zusammen eine große, harmonische Einheit bilden und dennoch einzeln wahrnehmbar sind, und wirken in Aromatik und Textur lange nach.

Diese drei Tage waren eins der intensivsten Weinerlebnisse, die ich je hatte. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Hausarzt und Zahnarzt… besser nicht; sie würden sicher nachdrücklich von derartigen Veranstaltungen abraten. Ich würde eine solche Reise trotzdem jederzeit mit Freuden wiederholen.