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Bevor ich jetzt ansetze, diesen Beitrag zu schreiben, habe ich mir nochmals die beiden Vorgänger „Altes Zeugs“ und „Mehr altes Zeugs“ durchgelesen. Da kann man wirklich ins Schwärmen geraten!

In diesem Sinne hier nun auch in diesem Jahr mein Rückblick auf Weine jenseits der Jahrtausendgrenze, die ich 2015 probiert und/oder getrunken habe, mit ausführlichen Original-Verkostungsnotizen. Die teilweise hochbetagten Gewächse stammten aus Privat- oder Gastronomiebeständen im Rhein-Main-Gebiet (Maintal, Frankfurt, Mainz, Oestrich-Winkel) sowie in Wien und Hockenheim.

Januar

Im Vicampo-Büro probierten wir kurz nach dem Jahreswechsel einen gereiften deutschen Schaumwein – und waren überrascht:

1999 Spätburgunder Rosé Sekt, Flick, Rheingau, Deutschland

Totgeglaubte leben länger. Als Kollege Thommy mir dieses ihm zugesandte Fundstück zeigte, dachte ich nicht, dass man mit dem Inhalt der Flasche noch etwas anfangen könnte. Doch – und das gönne ich Winzer Flick – ich wurde eines Besseren belehrt: Man konnte diesen 16 Jahre alten Rosé-Sekt sogar noch gut trinken (sofern man es schnell genug tat).
In der Nase nussig, eingemachte Orangen, Tabak, Pfirsichkompott, Granatapfel, erdig. Im Mund bemerkenswert lebendige Perlage, süßliche Frucht von eingemachten Beeren und teilweise angetrockneten Aprikosen, Unterholz, Tabak, Karamell, Anklänge an Vanille und Zimt, Kaffee, geröstete Nüsse, erdig, harmonische Säure; im Abgang etwas petrolig.
Für Freaks und Altwein-Fetischisten war das geradezu ein Feuerwerk. Nach wenigen Minuten im Glas ging er allerdings dann doch merklich in die Knie... In jedem Fall: Danke für das Erlebnis!

Februar

Korken mit Aufdruck Pinot Noir 1993Abgesehen von den im Blogbeitrag „Reifer über den Tag“ genannten Weinen gab es Anfang des Jahres vier weiße und rote Relikte aus den Siebziger, Achtziger und Neunziger Jahren, die ich erleben durfte:

1993 Pinot Noir Schützen Bruja, Bajano, Burgenland, Österreich

Ein wenig offen, vollreife Kirschen, Pflaumen, Gewürze, schokoladiges Holz, Laub, kühl, elegant, sehr feines Tannin, getrocknete Blüten, ein wenig angeschlagener Apfel, zarter Säurebiss, samtig, Schliff, saftig, unglaublich frisch, dicht, nachhaltig; wirkt, als wäre er keine zehn Jahre alt.

1973 Neuburger Gols Goldberg, Leitner, Burgenland, Österreich

Vegetabil, Karamell, reife gelbe Früchte, getrocknete Kräuter, geradezu salzige Mineralik, Schliff, Schmelz, frische, feine Säure, zart nussig, etwas Kaffee, nachhaltig, beeindruckend fit; hält sich auch im Glas über längere Zeit tadellos.

1997 Cabernet Franc, Zorzettig1997 Cabernet Franc, Zorzettig, Friaul, Italien

Gegrillte Paprika, saftige, leicht süßlich wirkende Frucht, Cassis, Kirschen, Brombeeren, Pfeffer, sehr weiches Tannin, feiner Säurebiss, kühler Schliff, erdige Mineralik; straff sich mit Luft zu beeindruckender Form.

1987 Ruster Ruländer Spätlese, Schandl, Burgenland, Österreich

Eukalyptus, kandierte Nüsse, kandierte Aprikosen, welk-pflanzlich, erdig.
Wir schlossen bei der Verkostung nicht aus, dass dieser restsüße Grauburgunder eventuell fehlerhaft war; zu alt erschien er durchaus nicht.

April

1947 Barsac Sauternes, Château CaillouZu den in den Blogbeiträgen „Die Tinhof-Vertikale“ und „Hochheimer Preziosen“ beschriebenen Kostbarkeiten kam noch eine ganz besondere, fast 70 Jahre alte Süßwein-Spezialität, von der ich dank eines wohlmeinenden Gastgebers buchstäblich noch ein paar Tropfen kredenzt bekam:

1947 Château Caillou Barsac Sauternes Cru Classé, Sauternes, Frankreich

Ich habe weiche Knie. Ananas, eingemachtes Kernobst, Gewürze, vegetabil, Popcorn, kandierte Nüsse, sehr feine Säure, Ingwer, Schmelz und geradezu transzendente Länge.

Juli

Eine Kollegin wünschte sich eine fachmännische Beurteilung eines Geschenks aus ihrem Keller; wir lieferten sie gern:

1986 Château de Canterrane1986 Château de Canterrane Côtes du Roussillon AOC, Roussillon, Frankreich

Ziegelrote Farbe, die deutlich ins Rehbraune tendiert.
In der Nase Aromen von Mokka, Gewürzen, Leder, Schokolade, Cola, überreifen bis angetrockneten Beeren und etwas Kräutern; mit Luft zunehmend oxidative Töne, Laub, etwas Jod sowie vegetabile, an getrocknete Tomaten erinnernde Noten.
Im Mund saftig und noch sehr geradlinig, wenn auch wiederum ein wenig oxidativ, Aromen von reifen Beeren, Gewürzen, Laub und Schokolade, erdig-mineralische Noten, recht mürbes Tannin; mit Luft auch Anklänge an Rauch und Speck, strafferer Säurebiss, nachhaltig und elegant.
Insgesamt stabiler als gedacht.

August

1961 Croix du Pape Châteauneuf-du-PapeAus einer Kellerentrümpelung rettete ein Freund drei historische Zeitzeugen, deren jüngster gut 30 und deren ältester fast 55 Jahre alt war:

1961 Croix du Pape Châteauneuf-du-Pape AOC, J. Buxtorf, Wichelhausen & Co, Rhône, Frankreich

Das Jahr des Mauerbaus und der Kubakrise. Rumtopffrüchte, Brombeeren, Preiselbeeren, Walnüsse, Nougat, etwas Schokolade und Tabak, Heilkräuter, geradezu frischer Säurebiss, fast immer noch grünes Tannin. Nach zwei bis drei Minuten im Glas beginnt der Einbruch: Karamell, Tabak, Laub, pilzig, feuchte Erde. Er bemüht sich wirklich sehr tapfer, sich noch einmal aufzurichten, und behält am Gaumen bemerkenswert lange seine Struktur, aber der Niedergang ist nicht aufzuhalten. Nach gut zehn Minuten tritt der aromatische Tod ein – nur mehr Säure und Tannin, sterbende Frucht, stumpfe Würze. Gleichwohl ein eindrucksvolles Erlebnis.

1961 Châteauneuf-du-Pape, Château Saint-André1983 Châteauneuf-du-Pape AOC, Château Saint-André, Rhône, Frankreich

Am Anfang Liebstöckel, Kaffee, süßliche Beerenfrucht, metallisch. Dann baut er sich auf: Tabak, Gewürze, teilweise überreife dunkle Beeren, deutlich vegetabil, herb-nussig, Holzkohle, feinkörniges, etwas trocknendes Tannin, zunehmend saftig, spürbarer Alkohol, Bitterschokolade im Abgang. Eher rustikale Anmutung, aber nach dem Erwachen kraftvoll, authentisch und in seiner gereiften Aromatik dann erstaunlich lange stabil.

1971 Monbazillac AOC, Vereinigte Winzergenossenschaften Bergerac, Sud-Ouest, Frankreich

Genauso alt wie ich. In den ersten Sekunden nur Lösungsmittel; dann erscheint er: angetrocknete Aprikosen, Karamell, Nüsse, wahrnehmbare Firnis, aber keinerlei Müdigkeit, Kandis, Tabak, Lauch, in Butter gebratene Pilze, 1971 Monbazillac, VWG BergeracAhornsirup, Esskastanien, kühle, erdige Mineralität, feine, lebendige Säure, Schmelz, Nachhaltigkeit. War nie ein großer Wein, aber er trägt eine unverbrüchliche Ruhe in sich, ist im Glas ganz stabil und lässt sich völlig unbeschwert trinken.

Dezember

Zum Jahresende kamen mir zwei schon ziemlich gebrechliche Rieslinge ins Glas; für den einen war das Öffnen der Flasche eher eine Erlösung von jahrelangem Siechtum in seinem Gefängnis (der Sauerstoff wehte seinen Geist hinfort), der andere richtete sich tapfer und trotzig noch einmal so weit von seinem Sterbebett auf, wie er konnte, und entschlummerte dann friedlich mitten im Trubel einer Wintersonnenwendfeier:

1993 Mittelheimer Edelmann Riesling Spätlese trocken (1,5 l),
Bernhard Mehrlein, Rheingau, Deutschland

1993 Mittelheimer Edelmann Riesling Spätlese trocken, MehrleinDer tief bernsteinfarbene Tropfen blinzelt mit milchigem Blick noch einmal ins Licht des Verkostungsraums und haucht dann innerhalb von knapp zwei Minuten sein Leben aus. Große Erwartungen hatte ich nach 22 Jahren auch nicht mehr. Aromen von Nüssen und Nussschalen, Malz (an Kräuterbonbons erinnernd), etwas Karamell und Laub sowie Anklänge an feuchte Erde und welke Blüten. Nach weniger als einer Minute wird er vegetabil mit Noten von Sellerie und Kohlrabi. Am Ende schmeckt er nach Bienenwachs, auch das Mundgefühl ist eher wachsig, und auf der Zunge stehen Säure, Karamell, Kräuter und kandierte Walnüsse nebeneinander. Für ein solches Alter war er nie gemacht.

1976 Wachenheimer Böhlig Riesling Auslese, Dr. Bürklin-Wolf, Pfalz, Deutschland

1976 Wachenheimer Böhlig Riesling Auslese, Bürklin-WolfIn der Nase getrocknete Aprikosen, Tabak, teilweise getrocknete Kräuter und Unterholz. Auf der Zunge Nüsse, wiederum Tabak und getrocknete Aprikosen, vegetabil, Salz und neues Leder. Wirkt erst ziemlich fragil, doch nach zwei bis drei Minuten hat er die Form gefunden, die er mit seinen fast 40 Jahren dann noch etwa eine Viertelstunde lang aufrecht erhalten kann: Karamell, Walnüsse und Krustentierfond (!).