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Während meiner Ausbildung zum Restaurantfachmann vor knapp 25 Jahren habe ich gelernt: Weißwein vor Rotwein – in der Menüfolge ebenso wie bei Degustationen. Aber ist das wirklich immer die beste oder die einzig mögliche Reihenfolge? Mit meiner heutigen Verkostungserfahrung wage ich dazu einige Überlegungen.

Speisenfolge bestimmt Weinfolge

„In der Regel wechselt man von Weißwein zu Rotwein“, heißt es auch auf der – übrigens sehr empfehlenswerten – Internetseite weinkenner.de, wobei sich diese Aussage auf die übliche Reihenfolge beim Essen bezieht. Das Deutsche Weininstitut (DWI) begründet in einer Abhandlung über das Zusammenspiel zwischen Weinen und Speisen, weshalb: „Die Weinfolge soll (ebenso wie die Speisenfolge) in Aroma und Geschmack sowie in Gehalt und Fülle eine Steigerung erfahren.“ Noch etwas ausführlicher wird die Internetseite weinimwww.de: „Die Reihenfolge eines Menüs wird meist von einer geschmacklichen Steigerung bestimmt, dasselbe gilt für die Weine. Einige Tipps zur idealen Reihenfolge von Weinen: Weißwein vor Rotwein; junge Weine vor älteren Weinen; leichte Weine vor schweren Weinen; trockene Weine vor milden und süßen Weinen; neutrale Weine vor älteren Weinen; zarte Weine vor würzigen Weinen; kalte Weine vor warmen Weinen.“ (Die Fragen, wieso hier „neutral“ und „alt“ einander gegenübergestellt werden, was „warme“ Weine sind und wer die trinken soll, blende ich an dieser Stelle mal aus.)

Damit gibt bei einem mehrgängigen Mahl die Speisenfolge die Reihenfolge der Weine vor. Für beides gilt: Da es sehr schwer ist, nach geschmacksintensiven Gerichten und/oder Weinen wieder zu leichteren zurückzukehren, steigert man die Aromenstärke sukzessiv – denn die starken Aromen beanspruchen die Zunge und bleiben oft mindestens rudimentär erhalten (blockieren also gewissermaßen die Geschmacksrezeptoren), so dass sie die schwächeren (und auch feineren) überlagern oder verfälschen können. Nachdem Weißweine im Regelfall (!) zumindest gefühlt leichter oder weniger kräftig sind als Rotweine (was auch mit dem Tanningehalt der Letzteren zusammenhängt), geht man üblicher Weise von weiß zu rot. Jedoch bringen sowohl Bukettrebsorten (Muskat, Traminer etc.) als auch bestimmte Ausbaumethoden (Holzfass, Maischegärung) Weißweine mit ausgeprägter Aromatik hervor, die insbesondere leichte Rotweine (etwa aus Rebsorten wie Trollinger und im Stahltank ausgebaut) geschmacklich in den Schatten stellen können.

Auch bei der Kombination von Wein und Speisen sind inzwischen mehr Freiheiten zulässig. So räumt das DWI in seiner Abhandlung auch mit überholten kulinarischen Richtlinien auf: „Die uralte Faustregel ‚zu dunklem Fleisch stets Rotwein, zu hellem Fleisch nur Weißwein‘ ist längst passé. Neue kreative Arten zu kochen, die leichte phantasievolle und auf natürliche Aromastoffe ausgerichtete Küche lassen völlig neuartige Kombinationen zu und eröffnen vor allem dem Weißwein neue Einsatzfelder.“ Und ganz ausgezeichnet ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Felix Bodmann in seiner Webweinschule, der erst einmal konservativ an das Thema herangeht: „Bezüglich der Grundregeln ist es schwer in Mode, rebellisch zu sein: Rotwein zu Fisch, Riesling zum Gulasch, erlaubt ist, was gefällt. Aber – halten Sie mich meinetwegen für konservativ – richtig pfiffig sind diese Kombinationen in den seltensten Fällen. Meistens schmecken Sie nicht erstaunlich gut, sondern ‚erstaunlich gut dafür, dass sie eigentlich nicht funktionieren sollen‘.“ Danach gibt Bodmann nützliche Tipps – fachlich fundiert, humorvoll und liberal genug, um auch unkonventionelle Ideen auszuprobieren.

Degustationskriterien

Bei Verkostungen – also Weinproben ohne Speisenkomponente – gelten tendenziell dieselben Richtlinien wie für die Menübegleitung. „Stimmen Sie die Reihenfolge der Weine ab: von weiß zu rot, von leicht zu schwer und von jung zu alt“, rät der Weinhandel Hawesko in seinem Online-Magazin. Auch der Bioweinhandel Delinat empfiehlt: „Die Weindegustation sollte [...] eine gewisse Reihenfolge einhalten: die Trockenen vor den Süßen; die Weißen vor den Roten; die Jungen vor den Alten; die Leichten vor den Schweren; die Einfachen vor den Exklusiven.“ Ebenso schreibt das Weinnetzwerk Wein-Plus: „Die korrekte Reihenfolge der Weine ist wichtig. Dazu gibt es mehrere Regeln, die es sinnvoll zu kombinieren gilt: ähnliche Weine (z.B. gleiche Rebsorten) hintereinander; aufsteigend nach Restzucker, also erst trockene Weine und später süße Weine; aufsteigend nach Alkoholgrad; weiß vor rot.“ Und ebenfalls ähnlich lesen sich die Tipps für die Weinprobe zu Hause der Zeitschrift Essen & Trinken: „Die Reihenfolge der verkosteten Weine ist nicht beliebig: Für Gaumen und Nase ist es angenehmer, wenn leichte Weine vor schweren, trockene vor lieblichen und junge vor alten kommen. Außerdem sollten Sie Weißweine vor Rotweinen anbieten.“

Am ausführlichsten äußert sich der Autor der Internetseite wein-info.eu zur Abfolge der Weine bei Proben: „Orientiert man sich dabei an den Weinarten, empfiehlt sich die Reihenfolge: Schaumwein vor Weißwein vor Roséwein vor Rotwein. Stehen jedoch die Geschmacksrichtungen im Vordergrund, sollte man mit den säurereichsten Weinen beginnen und sich langsam zu den süßesten Gewächsen ‚vorarbeiten‘.“ (Auch hier sehe ich darüber hinweg, dass „Süße“ und „Säure“ unzulässiger Weise einander gegenüber gestellt werden; sie sind keine Gegensätze, und es kann nicht zweckdienlich sein, mit den Weinen zu beginnen, deren Säurewerte am höchsten sind.) „Schließlich gibt es noch die Möglichkeit, Weine verschiedener Qualitätsstufen zu verkosten. Dabei beginnt man mit den einfachsten Weinen und steigert die Qualität stetig. Nach dem Spitzenwein bietet man zum ‚Abtrunk‘ dann wieder einen leichten, unkomplizierten, vielleicht sogar süffigen Wein an, denn es kann sowohl für den Gastgeber als auch für die Gäste durchaus anstrengend werden, einen erlesenen Wein nach dem anderen zu würdigen.“

Damit kommen wir genau an den Punkt, an dem ich mit diesem Beitrag anknüpfen will. Dabei geht es mir freilich nicht darum, die Kriterien für professionelle Degustationen in Frage zu stellen. Ganz im Gegenteil: Diese sind absolut sinnvoll und folgen dem Prinzip, dass sich die Intensität sämtlicher Parameter (Aromastärke, Säure, Restzucker, Alkohol, Tannin) im Verlauf der Verkostung steigern sollte. Auch hier wird also wiederum Weißwein vor Rotwein kommen.

Meine Überlegungen setzen vielmehr da an, wo ein geselliger Abend ansteht, an dem zum Essen und danach Weine konsumiert werden. Es geht vielleicht auch ums Verkosten, aber eigentlich ums Trinken und Genießen. Das Essen kann aus einem mehrgängigen Menü, einem Buffet oder auch aus einer Vielzahl von Kleinigkeiten bestehen. Wir setzen voraus, dass alle ausgeschenkten Weine von überdurchschnittlicher Qualität sind. Wie kann also vor dem Hintergrund der vorangegangenen Ausführungen die Reihenfolge der Weine aussehen?

Bewusstseinsfragen

Eine zentrale (und durchaus provokative) Frage ist dabei: Wie sinnhaft ist es tatsächlich, mit den einfachen Weinen zu beginnen und mit den teuren, besonders hochwertigen und exklusiven bis zum Schluss zu warten?

Dafür spricht die ja bereits hinreichend erklärte Maßgabe der kontinuierlichen Steigerung: Sowohl bei der Aromenstärke als auch bei der Qualität (und damit der Tiefe und Dichte) der Weine sind Rückschritte schwierig – zum einen sensorisch und zum anderen, weil auch der Spannungsbogen nicht abreißen und die Genusskurve nicht einbrechen soll. Dies hätte Frustration zur Folge – ein Effekt, der sich an einem geselligen kulinarischen Abend nicht einstellen und tunlichst vermieden werden sollte. (Innerhalb dieses Szenarios könnte Frustration allenfalls aus einem überraschenden, also schleichenden Korkschmecker erwachsen; andere Weinfehler sollten durch das Vorprobieren der Weine ausgeschlossen werden.)

Dagegen spricht die Argumentation, dass mit zunehmendem Alkoholkonsum die Aufmerksamkeit und die Wahrnehmungsfähigkeit nachlassen, so dass man eventuell schon benebelt ist, wenn die besten Weine zum Ausschank kommen, und sie buchstäblich nicht mehr mit vollem Bewusstsein genießen kann. Ich erinnere mich an einen Abend nach einem, sagen wir, recht „gehaltvollen“ Tag auf einer Weinmesse, als wir mit einer Gruppe von Sommeliers in ein sehr gutes Restaurant einkehrten und jeder eine Flasche seiner Wahl aus der Weinkarte aussuchen sollte. Ich meine mich zu entsinnen, dass ich damals einen weißen Burgunder ausgewählt habe, aber was es genau war und wie er schmeckte, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen. Das einzige, was ich sicher weiß, ist, dass ich eine erhebliche Menge Geld für ein Abendessen mit hochkarätiger Weinbegleitung ausgegeben habe, ohne dass ich das überhaupt bewusst erlebt hätte.

Aus dieser Anekdote muss man sicherlich den vorangegangenen Messetag „herausrechnen“, aber prinzipiell geht es darum, dass man sich bei Einhaltung der allgemein üblichen Dramaturgie möglicherweise um den bewussten Genuss der qualitativ hochwertigsten und komplexesten Weine bringt, weil man vorher von den „kleineren“ schon zu betrunken ist. Sollte man also unter dem Motto „Nüchtern das Beste“ mit den größten Weinen starten und dann sanft qualitativ abgleiten? Dazu wäre zumindest etwas Überwindung notwendig, denn bekanntlich hat Alkohol ja eine enthemmende Wirkung, und da das erfahrungsgemäß auch für die finanzielle Freigiebigkeit gilt, kommen die teuren Weine meist erst zum Einsatz, wenn die Stimmung (und die Hand am Portemonnaie) schon eher gelöst ist.

Vorschläge zum Ablauf

Das optimale Vorgehen ist vermutlich wie so oft der goldene Mittelweg, so dass sich als Fazit folgende Empfehlungen ableiten lassen: