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Es begann ganz harmlos. Wir hatten uns in einem vinophilen Freundeskreis getroffen, um einige Weine zu verkosten – ein Überraschungsprogramm, weil jeder etwas mitgebracht hatte. Dabei blieben wir in Mitteleuropa: Österreich, Deutschland, Frankreich, Südtirol. Doch im Laufe des Abends entspann sich eine lebhafte, mitunter kontroverse Diskussion um das Thema Biowein und um das Verhältnis zwischen Weinexperten und Weinkonsumenten.

Einige aus unserem Kreis können durchaus als Weinfachleute gelten: Sie verkaufen Wein, beurteilen Wein, schreiben über Wein und/oder geben Seminare über Wein. Einer von uns ist privater Weinliebhaber mit gastronomischem Hintergrund und inzwischen seit etlichen Jahren im Nahrungs- und Genussmittelvertrieb tätig. Und er brachte die Sichtweise des Marktes, des Endverbrauchers in die Diskussion ein.

Über die Weine, die wir probierten, unterhielten wir uns natürlich auch, doch das gab wenig Anlass für Auseinandersetzungen; klar, einzelne Weine gefielen diesem oder jenem besser oder weniger gut, doch irgendwann begleiteten die Weine nur noch das zunehmend turbulente Tischgespräch, das sich auf eine abstraktere Ebene begeben hatte.

Meine Degustationsnotizen

2012 Gewürztraminer von Garlider und 2012 Riesling Grittermatte von J. Meyer2012 Gewürztraminer, Garlider, Südtirol

Den Südtiroler Gewürztraminer verkosteten wir blind, und er hätte zuerst auch als Neuburger aus der Wachau oder als weiße Burgundersorte aus Norditalien durchgehen können.

2012 Riesling Grittermatte, Julien Meyer, Elsass

Dadurch, dass der Elsässer Riesling nicht geschwefelt wurde, erinnert er im Aroma an einen Orange Wine. 

2009 Laumersheimer Riesling vom Kalksteinfels und Alte Reben von P. Kuhn2009 Laumersheimer Riesling vom Kalksteinfels trocken,
Philipp Kuhn, Pfalz

2009 Laumersheimer Riesling Alte Reben trocken, Philipp Kuhn, Pfalz

2006 Ayler Kupp Riesling Spätlese und Auslese Extra vom Margarethenhof2006 Ayler Kupp Riesling Spätlese, Margarethenhof, Saar

2006 Ayler Kupp Riesling Auslese Extra, Margarethenhof, Saar

2004 Champagne 2Xoz von Pouillon2004 Champagne 2Xoz, Pouillon, Champagne

Das Besondere an diesem Champagner – dessen Name französisch ausgesprochen wie „deux hexoses“ klingt, was übersetzt „zwei Hexosen“ bedeutet und auf die beiden sechswertigen Zucker Glukose und Fruktose anspielt, die im Traubenmost und im Wein enthalten sind – ist, dass die Dosage nur aus den fruchteigenen Zuckern besteht und somit aus demselben Most (und folglich demselben Weinberg) gewonnen wird wie der Grundwein; authentischer und originärer kann man einen Champagner nicht ausbauen.

2007 Morillon von Muster, dekantiert2007 Morillon, Sepp und Maria Muster, Steiermark

Bevor der Amphorenwein eingeschenkt wurde, hatte er eineinhalb Stunden in einer Karaffe zugebracht und geatmet.

2001 Zweigelt trocken, Herbert Nemsovszky, Weinviertel

Was Herbert Nemsovszkys Weine ausmacht, habe ich ausführlich im Blogbeitrag „Der Zuhörer“ beschrieben. Schön war ein Kommentar in unserer Runde zu diesem zwölf Jahre alten Zweigelt: Er sei „ein feenhaftes Wesen“, das wir jetzt auf dem Punkt erwischt hätten. So habe ich es auch empfunden.

Markt versus Natur

Unsere Diskussion während und nach der Probe lässt sich im Kern auf den Gegensatz – oder mindestens den Unterschied – zwischen Markt und Natur bringen. Eine wesentliche These war, dass Weinfachleute am Endverbraucher vorbei argumentieren, das heißt, sie machen sich Gedanken und reden und schreiben über Details, die den durchschnittlichen Weintrinker (den Kunden im Wein- oder Lebensmittelhandel, den Gast im Restaurant) gar nicht interessieren oder die dieser zumindest nicht nachvollziehen kann. Sie fordern einen Weinstil, den der Durchschnittskonsument vielleicht gar nicht will und gar nicht zu schätzen weiß, weil er ihn überfordert.

Unser Gastgeber an diesem Abend (seines Zeichens frisch gebackener Weinakademiker und sowohl im Weinhandel als auch im Weinjournalismus versiert) stellte den historischen Zusammenhang her: Die Weinproduzenten hätten in den 1960er Jahren ein bestimmtes Geschmacksbild propagiert, und die Konsumenten hätten dieses seit den 1980er Jahren akzeptiert. (Man beachte den Wirkungszeitraum: 20 Jahre!) Nun seien die Erzeuger „gefangen“ in ihrem eigenen früheren Geschmackspostulat; die Verbraucher (und ich möchte hinzufügen: auch genug Weinprüfer) seien konditioniert auf vordergründige, primärfruchtige Aromen. Es sei wie in Goethes Gedicht vom Zauberlehrling: „Die Geister, die ich rief, werd‘ ich nun nicht los“ (frei wiedergegeben). Die heute vermeintlich typischen, gewünschten Weinaromen würden durch Reinzuchthefen, Polyvinylpolypyrrolidon (PVPP) und Gummi arabicum erzielt.

Und damit waren wir bei der EU-Ökowein-Verordnung (der so genannten Kellerrichtlinie) und dem Einfluss der Chemieindustrie auf die Weinwirtschaft, denn für Biowein – der sich nur so nennen darf, wenn er die Vorgaben der Richtlinie erfüllt und das EU-Biosiegel trägt – sind auch die meisten Behandlungen aus dem konventionellen Weinbau zugelassen. Nachdem Wein (und speziell Ökowein) als Naturprodukt gilt, stellt sich dann aber die Frage: Wo ist der Unterschied zwischen biologisch und konventionell erzeugtem Wein? Bio – also naturnahes, integriertes, biologisch-organisches oder biologisch-dynamisches Arbeiten – kann nur im Weinberg stattfinden, die Kellermaßnahmen, die die EU-Ökowein-Verordnung erlaubt, sind eine Farce, weil ein Großteil der herkömmlichen Chemie legitimiert ist. Unser Gastgeber verglich das EU-Biosiegel sogar mit dem Nachhaltigkeitslabel „Fair Trade“: Dieses sei ein käufliches Siegel, das in erster Linie dem Marketing diene und mit Nachhaltigkeit nicht wirklich viel zu tun habe.

Also ist Wein mit Biosiegel Verbrauchertäuschung? Natürlich nicht zwingend und kategorisch; Wein, der das EU-Biosiegel trägt, ist in jedem Fall umweltfreundlicher erzeugt als konventioneller Wein. Doch da gemäß der Kellerrichtlinie auch die industrielle Produktion von Wein mit Biosiegel möglich ist, ist die Erwartungshaltung umweltbewusster Konsumenten in einigen Fällen vielleicht größer als die Anforderungen, die der ausgezeichnete Wein tatsächlich erfüllt. (Anmerkung: Wer nach Weinen sucht, die wirklich im Einklang mit der Natur hergestellt wurden, achte beim Weinkauf auf das Siegel des Demeter-Verbands; das steht für biodynamischen Weinbau und geht in seinen Vorgaben weit über die EU-Ökowein-Verordnung hinaus.) Wein kann aber auch ökologisch erzeugt sein, ohne dass das auf der Flasche angegeben ist, das heißt, nicht jeder Wein ohne Kennzeichnung ist konventionell hergestellt; im Zweifelsfall empfiehlt sich also, den Winzer zu fragen, wie er arbeitet, und sich das vielleicht sogar selbst anzusehen.

Präferenz oder Philosophie?

Eine daraus hervorgehende Frage, die uns beschäftigte, war schließlich die, welche Kriterien für die Weinproduktion gelten oder maßgeblich sind: der Wunsch des Verbrauchers, also der Marktgeschmack (Problematik und Hintergrund siehe oben), oder die Philosophie des Erzeugers. Soll der Winzer Weine produzieren, die sich verkaufen lassen (Marketing- und Vertriebsargumentation), oder sich allein nach seinen eigenen Maßstäben an Naturnähe und Qualität richten (Authentizitätsargumentation)? Kann er das Letztere überhaupt ausschließlich tun, wenn er wirtschaftlich überleben will? Sind Weine, die dem Massengeschmack entsprechen, minderwertiger als individuelle Weine, die der Konsument aber nicht versteht und nicht mag? Inwieweit kann ein Winzer sich seine Klientel erziehen?

2010 St. Laurent und 2007 St. Laurent von ZinhofEine eindeutige Antwort auf alle diese Überlegungen gab es weder an dem bewussten Abend noch später, doch innerhalb der Woche nach der Zusammenkunft der vinophilen Diskussionsrunde kamen – Zufall oder nicht – ganz ähnliche Themen beim Gedankenaustausch mit unterschiedlichen Beteiligten zur Sprache. Lukas Plöckinger vom Weingut Tinhof im Burgenland findet es in Ordnung, dass Winzer Weine für den breiteren Markt erzeugen, solange sie diese nicht für Spitzenweine halten oder als solche ausgeben. Tinhof hat als Einstiegsweine und/oder für den Alltag jeweils einen Weiß-, Rosé- und Rotwein (Tinhof Blanc, Tinhof Rosé und Tinhof Noir) im Programm, die mit derselben Sorgfalt wie die höherwertigen Weine produziert werden. Der 14-Hektar-Betrieb ist seit dem Jahrgang 2012 biozertifziert und keltert nur österreichische Rebsorten. Die ersten 2013er Weine – derzeit in der Gärung befindlich – schmecken aus dem Tank schon vielversprechend, und ich hatte auch die Gelegenheit, einige gereifte Gewächse zu probieren, die alle großes Trinkvergnügen bereiteten: Leithaberg weiß 2008 (Neuburger und Weißburgunder), St. Laurent 2007 und Leithaberg Blaufränkisch 2007. Außerdem hat Tinhof einen ebenso originellen wie faszinierenden „Aperitiv“ (leider mit -v geschrieben) im Angebot: einen Süßwein aus Weißburgunder, Neuburger, Welschriesling und Muskat-Ottonel, der gewissermaßen im Solera-Verfahren hergestellt wurde und mit seiner komplexen Aromatik alle Geschmackssensoren (süß, sauer, herb-würzig, salzig-mineralisch) anspricht – die perfekte Anregung des Verdauungssystems und damit Einstimmung auf ein Menü, denn sämtliche Sinne werden sozusagen geöffnet.

Was aber unterscheidet denn Massenweine von Spitzenweinen und wieso kann ein Wein nicht beides gleichzeitig sein? Denn es wird ja unterstellt, dass die (durchschnittlichen) Konsumenten eher das eine, die Kritiker aber das andere wollen und dass beide Kategorien nicht miteinander vereinbar sind. Massen- oder Basisweine sind unkompliziert, leicht zugänglich, haben eher vordergründige Aromen (siehe oben) und – wie ich immer gern sage – leisten keinen Widerstand; in ihrer Art sind sie austauschbar. Ein Spitzenwein zeigt Individualität und Charakter, ist komplex und tiefgründig und verlangt Auseinandersetzung, er ist genau nicht leicht zugänglich und lässt im besten Fall seine Herkunft deutlich erkennen (Stichwort Terroir). Ob ein Wein zur Basis oder zur Spitze gehört, ist auch eine Frage der Substanz. Diese wiederum richtet sich nach dem Ertrag, und insofern ist der Begriff Massenwein in einem doppelten Sinn zu verstehen: Zum einen ist ein solcher Wein aufgrund höheren Ertrags in größerer Menge verfügbar und kann daher in das Sortiment des Lebensmittelhandels gelangen (quantitativer Ansatz), zum anderen trifft er mit seiner leicht verständlichen Aromatik den Geschmack breiter Konsumentenschichten (qualitativer Ansatz). Basis- und Massenweine lassen sich somit nicht immer und vollständig, sondern eher in der zweiten Hinsicht gleichsetzen; ein konsequenter Winzer legt auch bei seinen Basisweinen dieselben handwerklichen Qualitätsmaßstäbe an wie bei seinen Spitzenweinen. Weil die so genannten Spitzenweine für viele Verbraucher jedoch erklärungsbedürftig sind, haben Weinkritiken ihren Sinn: Sie führen den Weintrinker an einen anspruchsvollen Wein heran, beschreiben und bewerten ihn (auch wenn, wie es an unserem Diskussionsabend hieß, ein Punktesystem eine Objektivität vortäuscht, die es nicht gibt und gar nicht geben kann) und geben so Orientierung.

In diesem Zusammenhang freute mich die Aussage eines Freundes, der seine Weine bislang größtenteils im Supermarkt kaufte und dem ich immer wieder mal „bessere“ Weine mitgebracht habe: Er berichtete mir am Telefon, dass er jetzt, nachdem er sich mehr mit Wein beschäftigt und auch mal wertigere Tropfen getrunken habe, bei so manchem anderswo (sei es in Privathaushalten oder in der Gastronomie) ausgeschenkten Wein denke: „Oh – der ist aber ziemlich belanglos.“ Das bedeutet, die Wahrnehmung lässt sich schulen und der Qualitätsunterschied ist schmeckbar. Insofern besteht noch Hoffnung für die angebliche Diskrepanz zwischen Fachleuten und Verbrauchern – und es darf ein Nebeneinander verschiedener Weinkategorien geben, denn der Weg zum Wein führt üblicherweise vom Allgemeinen (nachfrageorientierte Massenweine) zum Besonderen (eigenständige, herkunftsgeprägte Spitzenweine).