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Dass ich meinen 40. Geburtstag in Wien begehen würde, war eine intuitive Entscheidung gewesen. Dass ich am Vortag zufällig das Champagnergeschäft „Le Cru“ am Petersplatz im 1. Bezirk entdeckte, war ein Glücksfall. Denn so glitt ich dekadent und höchst genussreich ins neue Lebensjahrzehnt.

Das „Le Cru“ besteht bereits seit Mai 2008 und liegt wenige Meter vom Graben, der renommierten Wiener Einkaufsstraße direkt im Stadtzentrum, entfernt. Gleich vor der Tür steht die Peterskirche, und von drinnen sieht man den Turm des Stephansdoms. Das Spezialgeschäft, das sich treffend als „Comptoir de Champagne“ bezeichnet, bietet rund 100 Sorten Winzerchampagner sowie 20 bis 30 Raritäten an. Einige Klassiker der großen Champagnerhäuser sind ebenfalls im Angebot, doch der Fokus liegt auf kleinen Produzenten, die außergewöhnliche Schaumweine von höchster Qualität erzeugen. Dieses Konzept ist einzigartig in Wien, in Österreich und vermutlich in ganz Europa.

Motto: „100 % Champagne“

Alle Champagner können verkostet werden, und die Flaschen werden (mit geringem Aufschlag auf den Verkaufspreis) auch zum Verzehr in dem hellen, geräumigen und modern eingerichteten Ladenlokal angeboten. Von beiden Möglichkeiten machte ich ausgiebig Gebrauch, nachdem ein Schild vor der Tür, das auf ein Kostglas von einem mir bis dato unbekannten Erzeuger hinwies, meine Neugier geweckt und mich zum Eintreten bewogen hatte. Dass ich schließlich nicht nur den halben Nachmittag, sondern auch den gesamten Abend im „Le Cru“ verbrachte, ist – neben meiner zeitlichen Disponibilität – Alexander Davidek zu verdanken, der zusammen mit Dominik Portune und Christina Fieber das Team des Champagner-Comptoirs bildet. Die drei teilen sich den Dienst tageweise auf, und bei meinem Besuch war Davidek der Gastgeber.

Nach dem ersten Glas, begleitet von Hintergrundinformationen zum „Le Cru“, war ich animiert für mehr, und Davidek ging zunächst auf meine Präferenz für Blanc de Blancs mit möglichst geringer Dosage ein, die er schnell erfragt hatte. Im weiteren Verlauf setzte er jedoch mit seinen Empfehlungen auch andere Akzente, die sich als äußerst reizvoll erwiesen. Als ich relativ bald von Glas- auf Flaschenausschank umstieg, wollte ich ursprünglich – auf Anregung Davideks – das ausgewählte besondere Gewächs bei einem erneuten Besuch am folgenden Tag (ja meinem Geburtstag) weiter genießen. Doch es kam anders: in Gestalt eines weltläufigen Bundesheer-Beamten, der an jenem frühen Nachmittag seine Gleitzeit für ein Gläschen Champagner nutzen wollte. Mit ihm entspann sich ein unterhaltsamer Diskurs über Geschichte, Politik und Kultur, der die Flasche – in der Laune des Augenblicks – ihren gesamten Inhalt kostete. Ich beschloss daraufhin, abends wiederzukommen und eine andere Auswahl für den bevorstehenden Ehrentag zu treffen.

Wallfahrtsort für Hedonisten

Der Abend wuchs sich indessen zu einer Fachdegustation – nein, eher Fachkonsumation aus, wobei Alexander Davidek und ich gemeinsam insgesamt drei weitere Winzerchampagner aussuchten, um sie – auch unter Berücksichtigung von Jahrgängen und Lagen – auf Trinkfreude zu testen. Zu späterer Stunde kam sogar noch „Le Cru“-Inhaber Kommerzialrat Rudolf Anzenhofer nebst Gattin vorbei, der die Vinothek vor gut drei Jahren zusammen mit Christian Weininger gegründet hat. Am Ende waren es acht exquisite Champagner, die ich im Laufe des gesamten Tages kennenlernte:

Die Dramaturgie am Nachmittag und am Abend war jeweils in sich stimmig. In der Gesamtschau wäre es besser gewesen, die Cuvée des Caudalies und Les Chétillons in umgekehrter Reihenfolge zu probieren (heißt hier: zu trinken). Dann wäre das Genusserlebnis noch größer gewesen, weil sich die gefühlte Qualität durchgängig gesteigert hätte. Da wir jedoch eine mehrstündige Pause dazwischen hatten, fiel der theoretische „Knick“ in der Qualitätskurve nicht ins Gewicht. Es war extrem spannend, die verschiedenen Aromenprofile der einzelnen Champagner zu vergleichen – von Limetten und Getreide über rote Beeren oder Trockenfrüchte bis zu ätherischen Noten von Orangenöl – und insbesondere ihre Veränderung über längere Zeit zu verfolgen. Speziell die beiden 2002er Jahrgangsgewächse von Bara und Moncuit waren faszinierend in ihren Unterschieden, dabei qualitativ einander nahezu ebenbürtig. Mit den Vieilles Vignes endete der Abend beschwingt und selig weit nach Mitternacht.

Das „Le Cru“ hat nach diesem ersten, denkwürdig ausufernden Besuch einen festen Platz auf meiner Besuchsliste für Wien. Die Lage, das Angebot und der Service überzeugen, und das folgende Zitat von Gustav Mahler gewinnt mit diesem Domizil am Petersplatz einen besonderen Reiz: „Wenn die Welt einmal untergehen sollte, ziehe ich nach Wien, denn dort passiert alles 50 Jahre später.“ Mehr Zeit für Champagner also – aber bitte nicht erst zum Weltuntergang!